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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Unheil seinen Schatten wirft, und wo die Kartenhäuser unnatürlicher Gesetze in sich zusammenfielen. Ich habe ein Kind, gut; ich bin Mutter, das Gesetz will es. Aber Sie, Monsieur, der Sie eine Seele haben, die so zart mitfühlen kann, vielleicht können Sie den Aufschrei einer armen Frau verstehen, die kein unechtes Gefühl in ihr Herz hat eindringen lassen. Gott wird über mich richten, aber ich glaube seinen Gesetzen zuwiderzuhandeln, wenn ich den Gefühlen nachgebe, die er in meine Seele gepflanzt hat. Hören Sie, wie es in meiner Seele aussieht! Ist nicht ein Kind das Ebenbild zweier Menschen, die Frucht zweier, aus freiem Willen vereinter Leidenschaften? Wenn man nicht mit allen Regungen des Körpers und mit aller Zärtlichkeit des Herzens an ihm hängt; wenn es nicht an köstliche Liebesstunden, an die Tage, die Plätze erinnert, wo diese beiden Menschen glücklich waren, wo ihre Sprache von Musik, ihre Gedanken von süßer Heiterkeit erfüllt waren, dann ist es eine verfehlte Schöpfung. Ja, es muß für sie eine entzückende Miniatur sein, in der aller Zauber ihres geheimen Doppellebens liegt; es muß ihnen eine Quelle fruchtbarer Empfindungen, muß zugleich ihre ganze Vergangenheit, ihre ganze Zukunft sein. Meine arme kleine Hélène ist das Kind ihres Vaters, das Kind der Pflicht und des Zufalls; sie findet in mir nur den weiblichen Instinkt, das Gesetz, das uns unweigerlich zwingt, das Geschöpf zu schützen, das in unserm Leibe gewachsen ist. Vom Standpunkt der Gesellschaft aus bin ich frei von Vorwurf. Habe ich dem Mädchen nicht mein Leben und mein Glück zum Opfer gebracht? Sein Schreien zerreißt mir das Herz; wenn es ins Wasser fiele, würde ich mich hineinstürzen, um es herauszuholen. Aber in meinem Herzen ist es nicht. Ach! die Liebe ist schuld, daß mir von einer höheren, von einer vollkommeneren Mutterschaft träumte; in einem Traum, der jetzt erloschen ist, liebkoste ich das Kind, das die Sehnsucht empfing, noch ehe es erzeugt wurde, die köstliche Blüte, die in der Seele wächst, bevor sie das Licht der Welt erblickt. Ich bin für Hélène, was im Reich der Natur eine Mutter für ihre Jungen sein muß. Wenn sie mich nicht mehr braucht, wird alles erledigt sein; wenn die Ursache schwindet, hören auch die Wirkungen auf. Wenn die Frau das herrliche Vorrecht hat, ihre Mutterschaft auf das ganze Leben ihres Kindes auszudehnen, muß man diese himmlische Dauer des Gefühls nicht auf die Ausstrahlungen ihrer seelischen Empfängnis zurückführen? Wenn nicht die Seele seiner Mutter die erste Hülle des Kindes gewesen ist, dann hört die Mutterschaft in ihrem Herzen auf wie bei den Tieren. Das ist die Wahrheit, ich fühle es: je mehr meine arme Kleine heranwachst, je kälter wird mein Herz. Die Opfer, die ich ihr gebracht habe, haben mich schon von ihr abgewandt, während mein Herz für ein anderes Kind, das fühle ich, unerschöpflich gewesen wäre; für jenes andere wäre nichts Opfer, wäre alles Lust gewesen. Hier, Monsieur, vermag die Vernunft, die Religion, alles, was in mir ist, nichts gegen meine Empfindungen. Hat die Frau, die nicht Mutter und nicht Gattin ist und die, zu ihrem Unglück, die Liebe in ihrer unsäglichen Schönheit, die Mutterschaft in ihrer grenzenlosen Wonne geschaut hat, hat sie unrecht, daß sie sterben will? Was kann aus ihr werden? Ich kann Ihnen sagen, was sie durchmacht! Hundertmal am Tag, hundertmal bei Nacht überläuft ein Schauder mir Kopf und Herz und den ganzen Körper, wenn eine zu zaghaft niedergezwungene Erinnerung das Bild eines Glückes bringt, das ich vielleicht schöner erträume, als es ist. Unter diesen grausamen Phantasien erlischt all mein Gefühl, und ich frage mich: ›Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ...?‹«
    Sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.
    »So sieht es in meinem Herzen aus!« fuhr sie dann fort. »Für ein Kind von ihm hätte ich die schrecklichsten Qualen erduldet! Der Gott, der alle Sünden der Erde auf sich nahm und am Kreuze starb, wird mir den Gedanken verzeihen, der für mich tödlich ist; aber die Gesellschaft, das weiß ich, ist unversöhnlich, für sie sind meine Worte Lästerungen; ich spreche all ihren Gesetzen Hohn. Oh, ich wollte dieser Welt den Krieg erklären, um ihre Gesetze und Bräuche zu erneuern, um sie zu zerbrechen! Hat sie mich nicht in all meinen Gedanken, in all meinen Fibern, in all meinen Empfindungen, in all meinem Wollen, in all meinen Hoffnungen, in Zukunft, Gegenwart und

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