Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
scheu voneinander abzuwenden. Da verstanden sich die beiden Frauen mit einem Blick, der auf Hélènes Seite ausdruckslos, kalt und achtungsvoll, auf seiten der Mutter düster und drohend war. Hélène beugte sich schnell wieder über den Stickrahmen, ließ die Nadel fliegen und hob ihren Kopf, der ihr zu schwer geworden schien, lange nicht mehr. War die Mutter gegen ihre Tochter zu streng, und hielt sie diese Strenge für notwendig? War sie eifersüchtig auf Hélènes Schönheit, der sie immer noch, aber freilich nur durch das Aufgebot aller Toilettenkünste, standhalten konnte? Oder hatte die Tochter, wie viele Mädchen, wenn sie einen schärferen Blick bekommen, Geheimnisse erraten, die diese Frau, die dem äußern Anschein nach ihren Pflichten so getreulich nachkam, in den Tiefen ihres Herzens wie in einem Grab geborgen zu haben glaubte?
Hélène war in einem Alter angelangt, wo die Reinheit der Seele zu einer Strenge führt, die das richtige Maß, in dem die Gefühle bleiben sollen, überschreitet. In manchen Köpfen nehmen Fehler die Ausmaße eines Verbrechens an; die Phantasie wirkt dann auf das Gewissen zurück; die jungen Mädchen übertreiben die Strafe je nach der Bedeutung, die sie dem Vergehen beimessen. Hélène glaubte, daß sie keines Menschen würdig sei. Ein Geheimnis ihres vergangenen Lebens, etwas Zufälliges vielleicht, das, anfangs unverstanden, sich in ihrem eindrucksfähigen Verstand, der unter dem Einfluß religiöser Ideen stand, noch steigerte, schien sie seit kurzem in der exaltierten Art, wie Hélène es betrachtete, vor sich selbst förmlich erniedrigt zu haben. Diese Veränderung in ihrem Betragen begann an dem Tage, als sie in der neuen Übersetzung der ausländischen Theaterstücke das schöne Schauspiel ›Wilhelm Tell‹ von Schiller gelesen hatte. Das Buch war ihren Händen entfallen, und die Mutter hatte sie ob dieses Versehens gescholten; durch diesen kleinen Zwischenfall wurde die Marquise darauf aufmerksam, daß die Verheerung, die diese Lektüre in Hélènes Seele angerichtet hatte, von der Szene herrührte, wo der Dichter zwischen Wilhelm Tell, der das Blut eines Mannes vergießt, um ein ganzes Volk zu retten, und Johannes Parricida eine Art Freundschaftsbund begründet. Hélène hatte ein demütiges, frommes, in sich gekehrtes Wesen angenommen und wollte keine Bälle mehr besuchen. Niemals war sie so zärtlich gegen ihren Vater gewesen; besonders wenn ihre Mutter nicht zugegen war, überhäufte sie ihn mit ihren mädchenhaften Liebkosungen. Jedoch wenn zwischen Hélène und ihrer Mutter eine gewisse Entfremdung eingetreten war, so tat sie sich auf eine so heimliche Weise kund, daß der General, der eifersüchtig über die Eintracht in seiner Familie wachte, nichts davon gewahr wurde. Kein Mann wäre scharfsichtig genug gewesen, um die Tiefe dieser beiden weiblichen Herzen zu ergründen: das eine war jung und großmütig, das andere empfindlich und stolz; das erste voller Nachsicht, das zweite voller Hinterhältigkeit und Leidenschaft. Wenn die Mutter die Tochter durch einen geschickten weiblichen Despotismus quälte, so wurde dies einzig dem Opfer fühlbar. Im übrigen hat erst das folgende Ereignis diese rätselhaften Mutmaßungen hervorgerufen. Bis zu dieser Nacht aber war kein Strahl, dessen Licht anklagend gewesen wäre, von den beiden Seelen ausgegangen; aber zwischen ihnen und Gott waltete sicherlich ein finsteres Geheimnis.
»Komm, Abel«, rief die Marquise in einem Augenblick, als Moina und ihr Bruder, müde geworden, still dasaßen; »komm, mein Sohn, ich muß dich zu Bett bringen ...« Und mit einem gebieterischen Blick zog sie ihn entschlossen auf ihren Schoß. »Wie«, sagte der General, »es ist halb elf Uhr, und noch ist keiner von den Dienstboten nach Hause gekommen? O die liederlichen Kerle!« Zu seinem Sohn gewandt fuhr er fort: »Gustave, ich habe dir dieses Buch nur unter der Bedingung gegeben, daß du um zehn Uhr mit Lesen aufhörst; du hättest es von selber um diese Zeit schließen und, wie du mir versprochen hattest, schlafen gehen sollen. Wenn du ein tüchtiger Mann werden willst, dann mußt du aus deinem Wort eine zweite Religion machen und daran festhalten wie an deiner Ehre. Fox, einer der größten Redner Englands, zeichnete sich vor allem durch die Vortrefflichkeit seines Charakters aus. Eine seiner bemerkenswertesten Eigenschaften war die Treue gegenüber seinem Wort. In seiner Kindheit hatte ihm sein Vater, ein Engländer von altem Schrot und
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