Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)
Vertreter jenes Landes, das lange Zeit die
Nase im Rennen zum Mond vorne gehabt hatte und das später immer wieder für die
Vereinigten Staaten von Amerika da war, wenn deren Trägersysteme aufgrund aller
möglicher technischen Gebrechen ausfielen, nicht verfügbar waren oder einfach
in der Atmosphäre explodierten oder verglühten. Er war noch keine vierzig, und sein
langes Haar hätte genauso jedem US-Marine gestanden; hätten die Kollegen aus
den Vereinigten Staaten es nicht für absolut notwendig erachtet, ihren
Verbissenheit und Fanatismus ausstrahlenden Gesichtsausdruck durch den so
typischen Bürstenhaarschnitt noch zu betonen. Seine ersten Worte, als er nach
seiner Ankunft die Basis betrat, wären es wert gewesen, gleich neben denen von
Neil Armstrong und Pete Conrad im Buch der Geschichte aufgezeichnet zu sein: »Leider
habe ich absolut keinen Wodka im Gepäck.« Damit war das Eis – normalerweise im
Wodka schwimmend – gebrochen, und seine ersten Sympathien gesichert. Als ihn kurz
darauf ein unzweideutiges Klirren aus seinem Handgepäck Lügen strafte, hatte er
die Mehrzahl der Crewmitglieder bereits für sich eingenommen.
Erin war mehr als positiv überrascht, als ihr der Russe mit
dem braunen Pferdeschwanz gleich am zweiten Tag nach seiner Ankunft den Auftrag
gab, die Systeme der Station zu überprüfen und nach eventuellen
Unregelmäßigkeiten und Anomalien Ausschau zu halten. Ein Großteil dieser Tests
waren automatisiert und lieferten einen automatisch erstellten
Abschlussbericht. Ähnlich wie in einem Raumfahrzeug wurden auch auf der Station
die Daten der Lebenserhaltungssysteme sowie die gesamte Kommunikation in und
mit der Basis aufgezeichnet und protokolliert.
Drei Tage später verbrachte Erin ihren Arbeitstag noch immer
zwischen Aufzeichnungen und Log-Dateien. Sie sichtete Dateien nach Datum,
Zeitstempel und Herkunftsort, ehe sie entschied, diese zu löschen oder zu
archivieren. Gerade war sie im Begriff, einige Videoaufzeichnungen der letzten
vierzehn Tage in den virtuellen Abfalleimer zu verschieben, als ihr ein rot
geschriebener Dateiname auffiel. Die Datei stammte der Ziffernkombination zufolge
aus Nicoles Kammer. Ein rot hinterlegter Dateiname verwies darauf, dass die
Aufzeichnung manuell gestartet worden war. Wie sollte das im Fall von Nicole einen
Sinn ergeben? Erin grübelte. Aufzeichnungen in den Unterkünften der Mitarbeiter
waren wegen der strengen Datenschutzrichtlinien von LunEx prinzipiell untersagt,
sie konnten ausschließlich und absichtlich nur durch den Bewohner der
Unterkunft selbst initiiert werden. Sie sah noch einmal auf das Datum und die
Uhrzeit der Datei. Es war der Vorabend des Tages von Nicoles Tod. Erin, ausgestattet
mit allen Rechten, die eine Administratorin benötigte, rief die Aufzeichnung
ab.
Kaum vier Minuten später sprang sie auf und lief von ihrem
Arbeitsplatz im Modul 2 in die Zentrale, um Martin zu suchen.
»Was ist denn los?«, wollte dieser wissen, als er ihr
Gesicht sah, das dieselbe kranke Farbe besaß, wie die Oberfläche des
Erdtrabanten bei Vollmond.
»Ich …«, sie schluckte. »Ich muss dir unbedingt was zeigen«,
sagte sie und schaffte es nicht ruhig vor ihrem Kollegen zu stehen. Ihre Hände
gestikulierten wirr neben ihrem Körper.
Ohne die Frage nach dem Warum oder Wieso zu stellen, folgte
er ihr. Offensichtlich bedurfte der Ausdruck in ihrem Gesicht keinerlei
weiterer Erklärung mehr. »Sieh dir das an!« Ihre Stimme zitterte hörbar, als sie
sich an ihre Konsole setzte.
Zehn Minuten später starrten beide noch auf den Bildschirm,
der jedoch nur noch weißes Rauschen zeigte. Martins Gesichtsfarbe hatte
mittlerweile dasselbe fahle Weiß angenommen wie das von Erin. Er atmete tief
durch, lief in dem schmalen Gang des Moduls auf und ab, griff sich an die Stirn,
zupfte an seinem nicht vorhandenen Bart. Dann blieb er stehen und sah seine Kollegin
fassungslos an.
Eine Minute später schien Martin wieder Herr der Lage und
fähig zu sein, einen Satz zu artikulieren; es war ein einfacher kurzer Satz,
ein Satz, der nur aus drei Worten bestand, ein Satz der einen Beginn
darstellte; einen Beginn, der die Geschichte, die schon vorherbestimmt schien,
verändern sollte, einen Beginn, der in einem der größten Skandale der
Geschichte gipfeln sollte: »Dieses verdammte Miststück!«
4
Houston,
2065
Rhythmisch hämmerte sie mit ihrem
zehn Zentimeter Absatz gegen den Steinboden. Die sie umgebenden Wände strahlten
in warmen Pastelltönen und konnten das
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