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Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)

Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)

Titel: Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Muellner
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Träume Dinge zu sehen, die nicht ganz so real waren, als sie auf
den ersten Blick den Anschein hatten, als sie die Augen plötzlich aufriss und
reglos an die Decke starrte. Langsam senkte sie ihren Blick, sah an sich hinab.
Sie lag auf ihrem Sofa. Genauso wie sie sich gestern gelegt hatte. Schmerzhaft
und wild hämmerte es in ihrem Kopf. ›Da ist alles drinnen, was Sie an Vitaminen
und Nährstoffen für die nächsten vierundzwanzig Stunden brauchen‹, fiel ihr
plötzlich der letzte Satz ein, an den sie sich erinnern konnte. Ja, und
obendrein sind noch jede Menge Beruhigungsmittel in dem Cocktail gewesen,
dachte sie und hoffte, dass es sich dabei nicht um verbotene Substanzen
gehandelt hatte, die nachhaltig ihr Gehirn oder ihre Nerven schädigen konnten.
Sie sah auf die Zeitanzeige. Zu spät. Vorbei. Ihr Termin, den sie um nichts auf
dem Planeten verpassen hatte wollen, war verstrichen, ihre Chance abgelaufen – unwiederbringlich.
Unbestechlich war die Zeit weitergelaufen, zeigte kein Mitleid mit ihr, wollte
nicht ihren Gang verlangsamen, um ihr noch eine letzte Möglichkeit zu geben, zu
spät zu kommen, sich hundert Mal dafür zu entschuldigen, sich vor der
Kommission auf die Knie zu werfen und zu flehen, sie doch noch anzuhören. Die
Zeit, die Zeit, das unbestechliche Metronom. Wo war sie geblieben, die
Relativität der Zeit, die ein gewisser A. Einstein einst propagierte? Wenn man
sie einmal brauchte, war sie nicht da – wie typisch. Vielleicht lag es auch nur
an der simplen Tatsache, dass sie sich nicht einmal annähernd mit
Lichtgeschwindigkeit fortbewegte. Die Zeit trug keine Schuld, Einstein ebensowenig.
    Nach der mittlerweile
obligatorischen Wie-pinkle-ich-mit-gefesselten-Händen- und
Jetzt-trinken-wir-brav-unseren-Nährstoff-Drink-Prozedur durfte sie sich wieder
hinlegen und schlummerte auch sofort ein.
    Sie stand auf der letzen Sprosse. Grob und klobig wirkten ihre
normalerweise so zierlichen Füße in den kniehohen Stiefeln. Sie sah nach unten.
Von der letzten Sprosse waren es gerade einmal dreißig Zentimeter bis zum Boden.
Boden? Welcher Boden? Der, der mit diesem seltsam färbigen Staub bedeckt war,
fein und körnig, intensiv und strahlend, dass man den gesamten Planeten auch nach
seiner Farbe benannt hatte. Ein kalter, kribbelnder Schauer jagte über ihren
Rücken. War sie wirklich hier? Sie, Karen McDonnel, geboren in einem winzigen
Kaff am Loch Ceiterein in Schottland. Mit beiden Händen hielt sie sich an dem
Aluminiumhandlauf fest, tastete vorsichtig mit ihrem rechten Bein nach unten,
langsam, unendlich langsam ließ sie es Zentimeter für Zentimeter dem Boden
entgegenwandern. Es spielte keine Rolle, wie lange sie dafür brauchen würde,
denn die Zuschauer auf dem blauen Planeten würden ihre ersten Schritte auf dem
roten ohnehin nur als Aufzeichnung zu Gesicht bekommen. Bis der Sauerstoff in
ihrem Anzug zur Neige ging, musste sie wieder zurück im Schiff sein, doch das
sollte zu schaffen sein. Und dann, plötzlich, spürte sie ihn, diesen Widerstand
unter ihrem rechten Stiefel. Sie lockerte den Griff ihrer Hände, ließ ihr gesamtes
Gewicht nur auf dem einen Bein ruhen, stellte das zweite daneben. Die lange
Reise – die Odyssee, zwischen Hürden und Spießruten – hatte ein Ende gefunden; und
diese hatte für sie nicht erst vor acht Monaten begonnen, als die ›Odyssey‹ von
der Erde gestartet war. Sie war angekommen.
    »Mission Control«, sagte sie für die Aufzeichnung, »es ist …
es ist …« Tränen stiegen ihr mit einem Mal in die Augen. Wie oft hatte sie auf
der Erde die letzten Schritte aus dem Raumschiff trainiert? Wie oft den ersten
auf dem Mars? Genau hatte sie sich überlegt, was sie in diesem denkwürdigen
Augenblick der Nachwelt sagen wollte. Nun stand sie hier am Ende dieser Reise
und am Beginn einer neuen, am Ziel ihres Lebenstraumes und wurde von ihren
gewaltigen Emotionen erfasst und hinweggetragen. Emotionen, die man auf der
Erde weder im Trainingscenter noch im Death Valley hatte simulieren können,
Emotionen, die sich im Laufe der dreihundert Millionen Meilen langen Reise
aufgestaut hatten, die in diesem Augenblick über sie hereinbrachen, als die
Erde nur noch ein unendlich kleiner Punkt im Schwarz des Alls war, einer von unendlich
vielen.
    »… so traumhaft schön«, stammelte
sie. Spontan und mitreißend klang das anschließende minutenlange Schluchzen,
das die Encoder in Nullen und Einsen transformierten und Richtung Erde sandten.
    Sie schreckte hoch. Tränen

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