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Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)

Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)

Titel: Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Muellner
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sei
freiwillig von Bord gegangen. Dann schöpfen die keinen Verdacht.«
    »Lasst es uns tun!« Männerstimme.
    Hunderte Arme züngelten wie Schlangen an ihr empor, die ihre
Beute umkreisten, ehe sie zustießen, um nach Karen zu schnappen. Nach ihren
Armen, Beinen, ihrem Körper, ihren Haaren. Doch sie stießen nicht zu. Warum nur?
Ehe sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, war ihr ganzer Körper mit einem
rotglänzenden Faden eingesponnen, den die Biester ausschieden. Bewegungsunfähig
versuchte sie, sich ihrem Kokon zu entwinden, konnte weder Arme noch Beine
bewegen, war ihrer Crew, den Reptilien, ausgeliefert. Wie betäubt musste sie mit
ansehen, wie man sie zur Luftschleuse bugsierte. Es geschah so langsam, dass
sie dachte, die Zeit bewege sich in einzelnen Bildern vorwärts. Die sich
unaufhörlich steigernde Panik flutete ihren Körper mit Hitzewallungen. Karen
wand sich, versuchte ihre Hände aus der starren Umklammerung zu befreien,
versuchte irgendwo Halt zu finden, wollte um Hilfe schreien, wollte ihre Laute
quer durch den Raum hallen lassen, hoffend, dass sie an ein offenes Ohr drangen,
hoffend, dass der Held in seiner silbrig glänzenden Zigarre im letzten
Augenblick ihr zu Hilfe eilte, sie aus ihrer misslichen Lage befreite, nur um
sie in seinem Schiff zu entführen und …
    Mit einem dumpfen Schlag schloss sich das innere Schott. Alle
Hände waren von ihr gewichen, die Züngelnden hatten sich zurückgezogen. Allein
war sie zurückgeblieben, schwebend zwischen zwei Türen, zwischen Atmosphäre und
Vakuum, zwischen Leben und Tod.
    »Adieu, meine Liebe!«, hörte sie den mechanischen Chor ihrer
Crew über die Lautsprecher.
    Monoton und leblos klang das Geräusch der luftabsaugenden
Pumpen.
    Karen spannte noch einmal jeden Muskel ihres Körpers, den sie
bewusst anspannen konnte, tat es ihren Eingeweiden gleich, krampfte sich zusammen,
ehe sich das äußere Schott mit einem Ruck öffnete und sie in den Raum hinausschoss
– eine rote Mumie auf dem Weg zum Roten Planeten. Plötzlich stieß sie gegen ein
Hindernis.
    Mit einer Schwere, als wäre er mit Blei ausgekleidet, wandte
sie langsam ihren Kopf. Groß und angstgeweitet waren ihre Augen, als sie die glatte
Fläche betrachtete. Sie versuchte das Gesehene zuzuordnen, Zusammenhänge zu
erkennen, herauszufinden, was geschehen war. Nach einer Minute ließen ihre kombinatorischen
Fähigkeiten nur folgenden logischen Schluss zu: Sie sah gegen die Wand, die
ihre Koje von der Nachbarkoje trennte; an dieser hatte sie sich ihren Kopf
gestoßen. Schweißgetränkt und eng klebte das Leintuch, das sie wie eine Mumie umschlossen
hatte, an ihrem heißen Körper. Sie befreite ihre Arme, dann ihre Beine aus der
feuchten Umklammerung. Mit kaltem Wasser netzte sie in der Nasszelle ihr Gesicht,
trank einen Schluck und begab sich wieder zu Bett. Eine Stunde drehte sie sich
hin und her. Gedanken hasteten durch ihren Kopf, was wohl die Gründe für diese
Albträume und bedrückenden Fantasien sein konnten. Sie zermarterte sich das Gehirn,
ohne jedoch auf eine zufriedenstellende Lösung zu stoßen. Das bisschen
Laienpsychologie, das sie sich als Kommandantin hatte aneignen müssen, brachte
sie auch nicht wirklich weiter. Schließlich schlummerte sie doch ein.
    Als sie am nächsten Morgen – Mission-Control-Zeit – aufwachte
und zum Spiegel ging, meinte sie bereits dreißig zusätzliche Jahre in ihren Beinen
zu spüren. Behäbig und ungelenk tat sie die wenigen Schritte und wich erschrocken
zurück vor dem Spiegelbild, das erbarmungslos in die Leere ihrer Augen sah. Ein
halbe Stunde später sah ihr Gesicht wieder etwas menschlicher aus, mehr nach
Karen. Mit professionellem Geschick hatte sie die Bleiche vertrieben und etwas
Farbe auf ihre Haut gezaubert, doch die Anspannung in ihren Augen und rund um
ihren Mund wollte nicht weichen.
    Routine und Gelassenheit, man könnte
es auch schon als das erste Stadium von Langeweile bezeichnen, herrschten auf der
Brücke, als Karen den Niedergang aufenterte, um ihren Statusbericht an die Leitstelle
auf der Erde zu senden. Lamin sah kurz zur Seite und nickte ihr ein förmliches »Guten
Morgen« zu. Unsympathisch wie an dem Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal gesehen
hatte, stand Lamins schlaksige Gestalt im Raum. Feindselig und distanziert
sahen sie seine dunklen Augen an, als hätten sie nichts Menschliches. Sein krauses
schwarzgraues Haar verstärkte den Eindruck noch.
    Karen war zu Ohren gekommen, dass Lamin angeblich sogar
Humor besaß.

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