Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)
Bisher war es ihr allerdings nicht gelungen, diesen auch nur in geringer
Konzentration nachzuweisen. Auch sollte er einen nicht ganz ungefährlichen Hang
zur Leichtsinnigkeit haben. Ein Draufgänger sollte er sein oder zumindest einmal
gewesen sein, als er noch keine fünfundzwanzig war. Für den Sohn eines
deutschen Architekten und einer südwestafrikanischen Lehrerin bestand die
Bezeichnung seiner Nationalität als Deutsch-Südwestafrikaner in einer bis dato
selten verwendeten Bedeutung. Nach seinem Studium der Medizin in Berlin, das er
gegen den Willen seines Vaters begonnen hatte, wollte er noch unbedingt eine
Psychotherapieausbildung anschließen. Doch seine ständig schwelende innere
Unruhe ließ dies nicht zu. Unentwegt trieb ihn diese an, trieb ihn weiter. Er
hatte, wie er zu sagen pflegte, die Schnauze voll, von diesem langweiligen,
zivilisierten Land, das zur einen Hälfte aus Vorschriften und zur anderen aus
Bürokraten bestand. Sein Rektor, dieser humorlose, gefühlskalte Mensch, ließ
auch sofort am Tag nach seiner Sponsion die Namibische Flagge wieder vom Dach
der Universität holen, die er und ein paar Freunde im Schutz der Nacht auf dem
Gebäude angebracht hatten. Was an jener Ausbildungsstätte so frei war, dass sie
die Deutschen sogar Freie Universität nannten, blieb Lamin fürderhin ein
Rätsel. Europa, seiner Meinung nach genauso frei wie die Berliner Uni, hatte
ihm außer Zwängen, Vorschriften, Richtlinien und Verboten nichts zu bieten. Diese
Dinge interessierten ihn genauso wenig wie irgendwo eine Arztpraxis, in der er
Dienst nach Vorschrift zwischen acht und siebzehn Uhr machen konnte. Ein
langweiligeres Leben war für ihn kaum mehr vorstellbar. Also kehrte er, der
Arzt der keine Grenzen kannte, in das Land zurück, das zumindest zur Hälfte sein
Heimatland war. Später wollte er weiter nach Osten über Indien, Myanmar und
China in die Mongolei. Doch dazu kam es nicht. Irgendetwas schien ihn an
Namibia zu fesseln und ließ ihn nicht mehr los. Einmal danach gefragt, konnte
er selbst nicht sagen, ob es an dem Land, den Menschen, der Mentalität oder
allem zusammen lag. Er liebte diesen so andersartigen Lebensstil abseits des
langweiligen, durchgeplanten Europas, liebte die damit verbundene Freiheit und
die Tatsache, dass seine Handlungen nicht auf Schritt und Tritt hinterfragt und
eingeschränkt wurden.
Wie es dazu kam, dass er sich
mit über sechsundfünfzig als Arzt für die Marsmission bewarb, ist nicht genau
belegt. Lag es daran, dass ihm wieder einmal sein Leben zu einer nicht enden
wollenden Qual geworden war, dass er sich nach etwas Anderem, etwas Neuem,
etwas noch nicht Dagewesenem sehnte? War ihm das Abenteuer, Arzt in Afrika zu
sein, zur Selbstverständlichkeit geworden? Wollte er ein letztes Mal
herausfinden, ob er in seinem Alter noch etwas komplett Neues beginnen konnte?
Etwas, mit dem er sich erneut gegen den Willen seines Vaters auflehnen konnte?
Tatsache ist, dass es Lamin bis an Bord der Mars One geschafft hat.
Wäre er eigentlich zu all dem fähig, was er ihr letzte Nacht
im Traum angetan hatte, ging es ihr durch den Kopf. Sie nahm einen Schluck von
ihrem Kaffee, während sie den automatisch generierten ›Wohlfühlbericht‹ des
Schiffes überflog, ihn digital signierte und durch den Raum Richtung Erde
sandte.
»Geht es dir gut?«, wollte Lamin wissen. Seine Stimme hatte
nichts von dem aggressiven Ton ihres Traumes.
Unsympathisch, doch immer korrekt, verhielt er sich, der
Bordarzt. So gut wie es mir gehen kann, nachdem du letzte Nacht eine Meuterei
angezettelt hast, der ich zum Opfer gefallen bin. Karen bildete sich ein, einen
Anflug von Besorgnis aus seiner Stimme herausgehört zu haben. »Danke, Lamin.
Mir geht’s gut«, sagte sie und hoffte, keinen Zweifel an dieser Tatsache in ihren
Worten durchscheinen zu lassen. Selbstbewusst warf sie die widerspenstigen
Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Es ist nur …«, begann er etwas zaghaft.
»Nur was?« Nur war immer schlecht. Nur, dieses kleine
Wörtchen, das hie und da seinen Weg in einen Satz fand, nahezu ausnahmslos
weder Gehör noch Aufmerksamkeit beim Gegenüber fand, das jedoch beim genauen
Hinhören in der Lage war, eine Ameise unter dem Mikroskop zu einem Elefanten
werden zu lassen.
»Wir, das heißt, die Crewmitglieder, die die Kojen neben der
deinen haben, dachten in der letzten Nacht Geräusche gehört zu haben.«
Karen versuchte Anzeichen für Schalk oder Sarkasmus in
seinen Augen zu finden, doch sie fand
Weitere Kostenlose Bücher