Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)
weder den einen noch den anderen. Sie waren
nur Schwarz. »Geräusche?«, fragte sie und hoffte, dass es überrascht genug
klang.
»Na ja, es waren eigentlich schon mehr Schreie«, sagte er
ernst. »Sogar ich konnte sie noch hören, obwohl ich neben Umberto untergebracht
bin.«
»Schreie?« Hitze wallte durch ihren Körper und ihre Wangen
fühlten sich rot und heiß an.
»Ja. Es klang beängstigend, irgendwie verzweifelt.«
Lamin, ich war verzweifelt, dachte sie. Verzweifelt, weil du
und die Crew mich mit einem seidenen Kokon zu einer Mumie verschnürt habt, um
mich anschließend durch die Luftschleuse außenbords zu befördern. »Es war nur
ein Albtraum.« Lebendig begraben im All. Von meiner eigenen Crew.
»Habe ich mir beinahe gedacht. Es hat mich jedoch sehr
überrascht, dass du im Traum mehrmals meinen Namen gerufen hast.«
Gekonnt und vielschichtig hatte sie ihr Make-up aufgetragen,
doch strahlten ihre Wangen mittlerweile in einem intensiven Rot durch dieses
hindurch.
»Das tut mir jetzt leid, wenn ich dich in Verlegenheit
gebracht habe«, meinte Lamin, »aber in meiner Eigenschaft als Arzt bin ich für
das Wohl der Mannschaft im Allgemeinen und das der Kommandantin im Besonderen
verantwortlich.«
»Deine Aufgaben an Bord sind mir wohlbekannt, Lamin, ich
will aber kein großes Aufhebens darum machen. Klar?« In diesem Augenblick konnte
sie nicht sagen, ob sie selbst von dem überzeugt war, was sie gerade ihren Arzt
glauben machen wollte.
Er sah sie lange und eindringlich an, als versuchte er
hinter den vielen Schichten Make-up ihr wahres Ich zu sehen. »Du weißt«, sagte
er ruhig, »wenn du Probleme irgendwelcher Art hast, du etwas brauchst oder du
auch nur jemanden zum Reden suchst, ich bin immer für dich da.« Er hielt inne,
sah sie an. »Für dich – wie für alle anderen Crewmitglieder auch – habe ich
selbstverständlich rund um die Uhr Sprechstunde.« Dabei huschten dezente
Lachfältchen über seine dunkle Physiognomie.
»Danke, Lamin, ich weiß das zu
schätzen«, sagte sie, während sie ihre linke Hand auf seine Schulter legte. Eine
Wärme durchströmte sie, als sie ihn berührte. Wohlig und angenehm verteilte sie
sich in ihrem Körper. Sicher und geborgen fühlte sie sich mit einem Mal. Diese
Geborgenheit war es, die sie, seit Nancy sie damals getröstet hatte, vermisste.
Doch das wurde ihr erst in diesem Augenblick bewusst. Vielleicht war sie doch
etwas zu reserviert diesem Deutschafrikaner gegenüber, der mit seinen
neunundfünfzig Jahren auch altersmäßig nicht mehr ganz in die Crew zu passen
schien.
»Habt ihr das auch gehört, letzte Nacht?«, fragte Jacquelines
rauchige Stimme, als sie verschlafen auf ihren endlos langen Beinen auf die
Brücke torkelte. Trotz ihrer fünfundvierzig Jahre strahlte ihr Gesicht nach wie
vor etwas Mädchenhaftes, die Art wie sie sich bewegte, natürliche Eleganz aus.
»Was denn gehört?«, gab Lamin interessiert zurück.
»Ich weiß nicht. Für mich hat es sich angehört, wie wenn
jemand schrie – eine Frau. Es klang irgendwie panisch, als ginge es um Leben
und Tod.« Sie versuchte, ihr blondes Haar in der schwachen Gravitation zu
bändigen.
Karen verdrehte ihre Augen und atmete tief, die zum
zig-tausendsten Mal recycelte Luft. Sie wollte gerade etwas erwidern als …
»Also ich habe nichts gehört«, entgegnete der Schiffsarzt
ernst.
Karen hoffte, dass Jacqueline den verhaltenen Blick, den er
ihr dabei zuwarf, nicht registriert hatte.
»Komisch. Du hast doch deine Koje fast gegenüber der meinen«,
sagte Jacqueline entrüstet. »Es liegen ja nur die Kammern unserer Kommandantin und
die von Umberto dazuwischen.«
»Vielleicht hast du es dir nur eingebildet«, gab Lamin
zurück. »Oder vielleicht hast du schlecht geträumt. Oder vielleicht hat unser
Römer seine Arien lauter als Zimmerlautstärke gehört.«
»Also wirklich! Soviel Grips hab ich schon noch, dass ich
zwischen Realität und Albtraum, der für mich gleichbedeutend mit Oper ist, unterscheiden
kann – auch im Dunklen.«
»Ich habe es allerdings auch gehört«, sagte Umberto. »Es
klang wirklich schauderlich. Wie jemand, der verzweifelt um sein Leben kämpft. Und
–«, er legte eine Pause ein und betrachtete Jacqueline, »ich kenne keine Arie,
die sich auch nur annähernd so gruselig anhört – nicht einmal eine von Wagner. Die
Gänsehaut stieg mir auf und sparte dabei auch meine intimsten Körperregionen
nicht aus.« Er grinste.
»Bitte!«, unterbrach Karen energisch.
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