Die Frauen der Calhouns 05 - Megan
abgemacht.« Er gab ihr die Brille zurück, stand auf und zog die nächste Planke heran. »Heute Abend also.«
»Heute Abend schon?«
»Warum es aufschieben? Sag Suzanna Bescheid, dass wir die Kinder auf dem Weg zu Hause abliefern.«
»Sicher, das kann ich machen.« Jetzt, da er mit dem Rücken zu ihr stand, konnte sie den Blick nicht von dem Muskelspiel unter der samtenen Haut abwenden, als er das Brett positionierte. Sie ignorierte das Flattern in ihrem Magen und hielt sich daran fest, dass ihr Sohn als »Anstandsdame« fungieren würde. »Ich habe noch nie Hummerbrötchen gegessen.«
»Du ahnst nicht, was dir dein Lebtag entgangen ist.«
Damit hatte Nathaniel recht gehabt, wie Megan eingestehen musste. Allein die Fahrt in dem schnittigen T-Bird über die gewundenen Straßen war ein Erlebnis. Das kleine Städtchen, durch das sie fuhren, wirkte wie die perfekte Postkartenszenerie. Die Sonne versank langsam am Horizont, und eine leichte Brise trug Wohlgerüche von Blumen und Salzwasser heran.
Das Restaurant selbst war nicht mehr als eine graue Holzbaracke, die auf Pfählen im Wasser stand und nur über eine wackelige Gangway zu betreten war. Die Innendekoration bestand aus zerrissenen Fischernetzen und ausgedienten Hummerreusen. Eine Handvoll Tische, die offensichtlich schon lange in Gebrauch waren und deutliche Benutzungsspuren aufwiesen, standen auf einem ebenso abgenutzten Boden. Romantik sollten wohl die zu Windlichtern umfunktionierten Thunfischdosen schaffen, die in der Mitte eines jeden Tisches prangten. An der Wand hinter der Theke hing eine Tafel, auf der mit Kreide die Tageskarte geschrieben stand.
»Wir haben Hummerbrötchen, Hummersalat und Hummer-Hummer«, zählte die Bedienung gerade einer leicht verdattert dreinschauenden vierköpfigen Familie im Stakkato auf. »Dazu Krautsalat und Fritten. Zu trinken gibt’s Bier, Milch, Eistee und Limonade. Eiscreme zum Nachtisch können wir heute nicht anbieten, weil die Eismaschine kaputt ist. Also, was soll’s sein?«
Als die Frau Nathaniel erblickte, überließ sie die Gäste vorerst ihrem Schicksal und begrüßte Nate mit einem harten Knuff auf die Brust. »Wo hast du dich so lange rumgetrieben, Captain?«
»Oh, überall und nirgends, Julie. Und jetzt hab ich Heißhunger auf Hummerbrötchen.«
»Da bist du hier genau richtig.« Die Bedienung, eine bleistiftdünne Frau mit stahlgrauem Haar, musterte Megan unverhohlen. »Wer ist das?«
»Darf ich vorstellen? Megan O’Riley und ihr Sohn Kevin. Und das ist Julie Peterson, die Frau mit den besten Hummer-Rezepten auf Mount Desert Island.«
»Die neue Buchhalterin auf The Towers .« Julie nickte knapp. »Dann setzt euch, ich bringe euch gleich was.« Damit ging sie zu der Familie zurück. »Was ist nun? Haben Sie sich entschieden, oder wollen Sie nur hier sitzen und Platz wegnehmen?
»Das Essen ist wesentlich besser als der Service.« Nathaniel blinzelte dem eingeschüchterten Kevin zu, als sie sich in eine der Nischen setzten. »Du hast soeben eine der Attraktionen der Insel kennengelernt. Mrs Petersons Familie fängt seit über hundert Jahren Hummer und bereitet sie zu.«
»Wow!« Für einen Neunjährigen sah Julie alt genug aus, um das Geschäft mit dem Hummerfang von Anfang an persönlich mitgemacht zu haben.
»Als Junge hab ich früher hier öfter gejobbt und die Böden geschrubbt.« Und Julie war immer gut zu ihm gewesen, wie Nathaniel sich erinnerte. Hatte ihm kommentarlos Eisbeutel auf die Blutergüsse gelegt und die Platzwunden desinfiziert.
»Ich dachte, du hast für die Bradfords gearbeitet …« Megan hätte sich die Zunge abbeißen mögen, als Nathaniel sie mit einer hochgezogenen Augenbraue fragend anblickte. »Coco erwähnte es.«
»Ja, bei denen auch.«
»Kanntest du Holts Großvater?«, wollte Kevin wissen. »Er ist nämlich einer von den Geistern.«
»Klar kannte ich den. Er saß immer auf der Veranda vor dem Haus, in dem Alex und Jenny jetzt leben. Manchmal lief er zu den Klippen von The Towers hoch. Um Bianca zu suchen.«
»Lilah hat gesagt, dass sie jetzt zusammen dort spazieren gehen. Aber ich hab sie noch nicht gesehen.« Und das war eine fürchterliche Enttäuschung. »Hast du schon mal einen Geist gesehen?«
»Mehr als einmal.« Nathaniel ignorierte den Tritt, den Megan ihm unter dem Tisch versetzte. »In Cornwall, da sind die Klippen steil und zerklüftet, und der Nebel rollt landeinwärts wie ein lebendiges Wesen … da habe ich eine Frau auf den Klippen stehen sehen.
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