Die Frauen von Bramble House
er wäre immer noch unterwegs, wenn seine Beine noch mitmachen würden. Seine Frau kann kein Wort Englisch, sie ist aus Österreich oder so, aber sie lächelt die ganze Zeit über …« May schlug jetzt eine andere Richtung ein, und damit auch einen anderen Ton an. Sie hob den Kaffeelöffel und klopfte damit gegen die Untertasse. Dann sagte sie: »Charlie ist ganz durcheinander, Peggy; du weißt schon, weil ihr doch zusammen aufgewachsen seid … und er mag dich sehr gern.« Sie blickte über den Tisch, wo Peggy mehr und mehr den Kopf hatte nach vorn sinken lassen, und dachte: Gern haben? Er ist verrückt nach ihr, das würde es besser treffen. Sie hatte ihren Jungen nie wieder weinen gehört, seit er sechs war und mit einer blutigen Nase heimgekommen war, aber neulich nachts, als sie an seiner Tür vorbeikam, hatte sie drinnen sein Schluchzen gehört. Sie war zu ihm hineingegangen und hatte ihn in die Arme genommen, aber sie hatte ihn nicht gefragt, warum er weinte. Kein Wort war zwischen ihnen gefallen; aber auch ihr waren die Tränen gekommen, als sie ihn in die Bettdecke packte, wie früher, als er noch klein war. Danach war sie in ihr Zimmer gegangen, und dort hatte sie selbst losgeheult. Dann war Frank heraufgekommen, hatte sie so aufgelöst vorgefunden und sie seinerseits in die Arme genommen und festgehalten. Und dann hatte er etwas sehr Seltsames gesagt: »Er wird schließlich doch bekommen, was er wirklich will. Er ist aus dem Stoff. Wie ich, er kann warten … weißt du nicht mehr?«
Und wie sie sich erinnerte! Mit sechzehn von der Schule abgehen müssen, um ihre Mutter zu pflegen, die wegen ihrer Arthritis ans Bett gefesselt war und es fünf Jahre lang genoß, die Invalide zu spielen; und dann hatte ihr Vater, von so vielerlei Dingen zermürbt, einen Herzinfarkt; und die ganze Zeit über war Frank dagewesen und an ihrer Seite, aber er hatte kein einziges Mal gesagt: »Wann hört das endlich auf? Was wird aus uns?« Stets hatte er nur gesagt: »Mach dir doch keine solchen Sorgen, alles wird schon recht werden.« Sogar damals, als sie ihm gesagt hatte, er solle gehen und sie in Ruhe lassen, was hatte er da nur als einzige Antwort gewußt: »Und wohin soll ich gehen, ohne dich?« Und sie war zu feige gewesen, mit ihm ins Bett zu gehen, weil sie Angst davor hatte, daß ihr das passieren würde, was diesem jungen Mädchen ihr gegenüber passiert war. Und damit war sie wieder bei Peggy. »Na komm schon«, sagte sie aufmunternd. »Zieh nicht so ein schiefes Gesicht. Mach nicht so ein Getue! Wie mein Frank immer sagt: In Nummer Dreiundzwanzig-Einhalb in der Mieseleute-Gasse wohnt ein blinder Mann mit seiner tauben Frau, und beide Elternpaare sind Alkoholiker! Denk mal drüber nach.«
Dreiundzwanzig-Einhalb …? Ach so. Peggy begann zu lachen. Mrs. Conway – Tante May zitierte immer gern ihren Frank. Mieseleutegasse … Ja, wahrscheinlich hatte May recht; bestimmt gab es Menschen, denen es weit schlechter ging als ihr selber. Andererseits, die Menschen, die einem so freundlich Ratschläge geben, machten ja nicht selber das durch, was sie gerade durchmachte. Irgendwie war es ziemlich einfach, Menschen mit Gleichnissen zu trösten, wenn man den Schmerz nicht selbst verspürte.
Aber, was war denn nur mit ihr los? Andauernd versuchte sie, sich alle Dinge zu erklären. Aber wußte sie nicht ganz klar, was mit ihr los war? Sie wollte nicht heiraten! Nicht, daß Andrew ihr auf einmal widerwärtig geworden wäre; in Wirklichkeit tat er ihr ebenso leid wie sie sich selbst. Was ihr zuwider war, war die Vorstellung, Tag für Tag mit ihm zusammenzuleben – und noch mehr, Nacht für Nacht. Aber sobald das Baby da war, würde sie vielleicht andere Gefühle haben. Wenn das Baby da war, würde sie an anderes zu denken haben. Aber bis Dezember war noch lange hin.
Sie stand auf. »Ich muß jetzt gehen. Es ist fast Zeit zum Abendessen. Und bei uns muß man pünktlich bei Tisch sitzen, nicht wahr?« Es klang ein wenig bitter. »Das immerhin wird ein Vorteil sein, wenn ich meinen eigenen Haushalt habe: Ich verpasse nicht die Suppe, wenn ich mal fünf Minuten zu spät komme.«
»Du kriegst keine Suppe, wenn …«
»Aber sicher! Väterliche Anordnung: DU sitzt bei Tisch, oder es gibt nichts.« Und die Bitterkeit schlug in zynische Heiterkeit um, als sie lachend hinzufügte: »Aber das betrifft allem Anschein nach bloß mich, weil meine Mutter und die Oma immer brav und pünktlich dahocken. Und die Urahne läßt sich meistens
Weitere Kostenlose Bücher