Die Frauen von Clare Valley
Prüfungen, Arbeitssuche, gebrochene Herzen. Helen erinnerte sich gut, wie glücklich und aufgeregt sie sich über die Nachricht gegeben hatte, dass die Kinder in Europa leben wollten, obwohl die Vorstellung, dass sie ihre beiden nicht mehr jede Woche sehen würde, ganz entsetzlich war … Was hatte sie nicht alles gedacht und gefühlt, nicht alles für ihre Kinder getan, mit solcher Freude – und sie würde es am nächsten Tag gleich wieder tun –, und nun saß sie da, allein, unglücklich und unendlich traurig.
Hörte Tony, dass sie wieder weinte? Er kam jedenfalls nicht und sah nach ihr. So blieb sie vor dem Computer sitzen, bis die Tränen versiegten, sich ihr Atem beruhigte und sie sich so erschöpft fühlte, als hätten die Tränen all ihre Energie fortgespült. Und so war es auch, wurde ihr mit einem Mal bewusst. Sie hatte die nötige Energie nicht mehr, um Tony in der Bahn zu halten und sich selbst gut zuzureden. Ihre Energie reichte gerade noch, um einige Stunden im Monat zu unterrichten und das tägliche Einerlei von Hausarbeit, Essen, Waschen und Kochen zu bewältigen. Ihr Leben war auf das Innere ihres Heims zusammengeschrumpft. Mehr hatte ihr das Leben nicht zu bieten? War es an der Zeit, wieder nach einer Vollzeitstelle zu suchen? Wie sähe die Alternative aus? Endlose Tage zu Hause, an denen sie Zimmer putzte, die bereits geputzt waren, auf das Klappern von Tonys Schlüssel in der Tür wartete und spürte, wie die Stimmung im Haus um einige Grad kühler wurde, wenn er mit seiner fast schon sichtbaren Wolke aus Elend und Verzweiflung kam?
Vor Weihnachten graute ihr besonders. Wie konnte sie so naiv sein und glauben, ein Ortswechsel würde irgendeine Veränderung bewirken! Sie würden sich doch bloß an einem anderen Ort elend fühlen. All ihre Hoffnungen auf ein fröhliches, ländliches Weihnachten, auf Drinks mit den anderen Gästen, womöglich sogar ein paar Lieder, hatten sich zerschlagen. Das war ein Anfall von falschem Optimismus. Selbst wenn sie Tony dazu bringen würde mitzufahren, er würde sich doch allem und allen entziehen. Er sprach ja kaum mit ihr. Da würde er wohl noch weniger lebhafte Gespräche mit fremden Gästen führen, sie zum Singen von Weihnachtsliedern animieren und anbieten, den Truthahn anzuschneiden oder die Krabben auf den Grill zu legen.
Sie mussten zu Hause bleiben. Vielleicht würde sie etwas Schönes kochen. Vielleicht auch nicht. Im Moment reichte ihre Energie nicht einmal für die Vorstellung, einen Teller mit Sandwiches zu machen. Sie würde Fertiggerichte kaufen, dann würden sie sich ein paar Filme im Fernsehen anschauen, mit ihrem Sohn in Spanien und ihrer Tochter in England sprechen und ins Bett gehen. Alles andere hatte keinen Sinn.
Sie wandte sich wieder dem Computer zu, um dem Motel abzusagen. Und erneut wurde sie daran gehindert. Denn in dem Moment kam eine E-Mail ihrer Tochter. Es war, als ob Katie auf der anderen Seite der Welt gespürt hätte, dass ihre Mutter an sie dachte. Es war eine fröhliche, euphorische Mail, ein Bericht über das Wochenende, ihr Sozialleben, die kommende Arbeitswoche bei der Bank, über Konzerte, Marktbesuche, das kalte Wetter, das Schnee versprach. Sie beschrieb, wie wundervoll alles beleuchtet und geschmückt war, wie weihnachtlich sich alles anfühlte – es komme ihr wie im Film vor. Wie sehr sie sich darauf freute, Weihnachten mit Freunden in einem Ferienhaus in Norfolk zu verbringen: Es klingt nach Stolz und Vorurteil oder Das Haus am Eaton Place . Uns fehlen nur noch Dienstboten. Liam platzt vor Neid. Ich glaube, er muss während der Feiertage arbeiten. Was habt ihr denn vor? Barbecue am Strand? Picknick im Park?
Vor zwei Tagen noch hätte Helen ihr vom Valley View Motel berichtet, wie sie aus einer spontanen Eingebung heraus gebucht und dann erfahren hatte, dass sie bei einem Glücksspiel gewonnen hatte. Das hätte Katie gefallen. Nun aber ging das nicht. Helen zwang sich dennoch zu einem fröhlichen Ton.
Guten Morgen, mein Schatz. Eine E-Mail in Echtzeit! Dein Weihnachten klingt wunderbar. Wir haben keine großen Pläne. Ein ruhiger Tag zu Hause, nur Dad und ich. Und du nimmst doch dein Handy mit, oder? Damit wir dich an Weihnachten wenigstens anrufen können?
Sie klickte auf »Senden« und wartete, immer noch erstaunt über eine so wundervolle Technologie, die es ihr erlaubte, mit ihrer Tochter über Tausende von Kilometern hinweg zu kommunizieren.
Zwei Minuten später war die Antwort da.
Natürlich! Mein Handy
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