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Die Frauen von Clare Valley

Die Frauen von Clare Valley

Titel: Die Frauen von Clare Valley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica McInerney
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reinste Hölle.«
    »Für mich auch, Tony, für mich auch.«
    »Du warst nicht dabei. Du hast Ben nicht schreien hören. Wenn ich eine Minute früher da gewesen wäre, hätte ich es womöglich kommen sehen. Eine halbe Minute früher, und ich hätte vielleicht verhindern können, dass der Lieferwagen auf ihn fällt.«
    Sie hatte von dem Unfall in allen Einzelheiten schon so oft gehört, dass auch sie davon Albträume hatte. Es hatte mit einem ganz simplen Fehler begonnen, eine Kette war nicht richtig befestigt worden, bevor der Wagen auf die Rampe kam. »Aber du warst nicht rechtzeitig da, Tony.« Ihr Tonfall wurde sanfter. »Du warst nicht da. Und ganz gleich, wie oft du das in Gedanken durchspielst, wie lange du dich noch von der Welt zurückziehst, von mir, wie unglücklich du dich damit machst, er wird nicht wieder lebendig. Er ist tot, Tony. Es war ein Unfall. Ein schrecklicher, tragischer Unfall. Und es war nicht deine Schuld. Du hast den Bericht des Gerichtsmediziners doch gelesen. Es war ein Arbeitsunfall. Du bist nicht dafür verantwortlich.«
    »O doch. Ich war sein Chef. Ich hätte ihn besser schulen müssen.«
    »Du hast ihn doch geschult. Du hast ihn in Arbeitsschutz unterwiesen. Aber an diesem Morgen, Tony, hat Ben aus einem Grund, den wir nie erfahren werden, die Bestimmungen missachtet und den schlimmsten Preis dafür bezahlt. Doch er hat die Bestimmungen missachtet, Tony, er , nicht du. Es war nicht deine Schuld.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Das darf dir nicht ewig im Kopf herumspuken. Es ist über ein Jahr her, Tony. Und nichts hat sich geändert. Siehst du das denn nicht? Soll das jetzt alles sein? Soll das jetzt unser Leben sein?«
    »Immerhin leben wir.«
    »Ja, Tony, wir leben. Aber ein Leben ist das nicht. Für keinen von uns beiden.«
    Den restlichen Abend wechselten sie kein Wort mehr. Tony ging ins Wohnzimmer und machte den Fernseher an, obwohl er, wie Helen wusste, gar nicht hinsah. Sie wusch ab und vertrieb sich dann die Zeit damit, Schränke auszuwaschen, die nicht ausgewaschen werden mussten. Doch sie wusste, dass ihn das Geklapper von Gläsern und Tellern nervte. Und sie wollte ihn nerven. Sie wollte weiter mit ihm reden, ihn anschreien, irgendeine Reaktion provozieren. Alles, aber nicht dieses … dieses Nichts , Abend für Abend.
    Zwei Mal ging Helen an den Computer, um dem Motel eine Mail zu schreiben. Kurz und bündig. Leider konnten sie das Gratisangebot über Weihnachten doch nicht annehmen. Trotzdem herzlichen Dank. Und frohe Weihnachten.
    Beim ersten Mal hielt sie ein weiterer plötzlicher Weinkrampf davon ab. Diesmal entluden sich ihre Schuldgefühle, weil sie zuvor nicht genügend Verständnis gezeigt und weil sie solche Wut auf Tony hatte. Eine Freundin hatte vor einiger Zeit behutsam vorgeschlagen, sie solle mit jemandem sprechen. Einem Therapeuten.
    »Tony braucht professionelle Hilfe, nicht ich.« Er hatte es in den ersten Monaten nach dem Unfall mit einer Sitzung versucht, aber der Termin hatte keine Viertelstunde gedauert. Tony war einfach gegangen. Die Therapeutin habe keine Ahnung, hatte er gesagt. Und sich geweigert, zurückzugehen, wie sehr Helen ihn auch drängte.
    »Ich glaube, ihr braucht beide Hilfe«, hatte ihre Freundin gesagt.
    Und Helen das Thema gewechselt.
    War es das, was ihr fehlte? Mit jemandem zu reden, zu erklären, wie schrecklich alles war? Oder sollte sie endlich aufhören, sich zu wünschen, sie könnte die Uhr zurückstellen, nicht nur zu der Zeit vor dem Unfall, als Tony noch interessant, interessiert gewesen war und am Leben mit ihr, mit den Kindern teilgenommen hatte?
    Am liebsten hätte sie die Uhr noch viel weiter zurückgestellt. Zu der Zeit, als Katie und Liam noch zu Hause lebten, als sie noch eine Familie waren, als der Freitagabend der allerschönste Moment der Woche war, wenn für die Kinder, für Tony das Wochenende begann. Sie hatte immer etwas Einfaches, aber Leckeres gekocht, und dann hatten sie alle vier einen ruhigen Abend im Kreis der Familie verbracht. Dies waren ihre schönsten Zeiten gewesen, glücklich und zufrieden zu Hause mit dem Mann, den sie liebte, und zwei glücklichen, gesunden Kindern, die sie beide liebten und großgezogen hatten. Mit ihrer Familie.
    Ihrer Familie, die nun – verloren war? Ihr Ehemann war ein Fremder. Ihre Kinder lebten auf der anderen Seite der Welt. Wie viel Liebe hatte sie ihnen geschenkt, wie viel Freude hatten sie gehabt, selbst Schwierigkeiten hatten sie gemeinsam durchgestanden –

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