Die Frauen von Clare Valley
niemand zu ihr ins Zimmer schauen konnte. Das entsprach nicht der Wahrheit. Es hatte vom ersten Tag an eine unausgesprochene Rivalität zwischen ihr und Geraldine gegeben, seit Jim ihr Geraldine vorgestellt hatte. Sie hatte sich für ihren Sohn eine lebenslustige, patente Freundin und potenzielle Ehefrau gewünscht, mit der auch sie sich verstehen, befreundet sein könnte, die Tochter, die sie nie gehabt hatte. Doch er hatte sich in Geraldine verliebt. Ruhig. Distanziert. Alles, aber keine schillernde Persönlichkeit. Ein Mal, nur ein einziges Mal, hatte sie Jim gefragt, was er in ihr sah.
»Sie ist so friedvoll.«
»Friedvoll?« Lola hatte gelacht. »Gott wie langweilig, Darling!«
Hatte Jim seither je ein Wort über Geraldine geäußert? Hatte er Geraldine erzählt, dass ihre zukünftige Schwiegermutter sie langweilig genannt hatte? Wie auch immer, er hatte Geraldine geheiratet. Und so hatte ihr gemeinsames Leben begonnen, waren sie zu dritt von Motel zu Motel gezogen, und dann waren, rasch hintereinander, Anna, Bett und Carrie gekommen.
Lola erinnerte sich deutlich an die Ankunft der Mädchen. Was für eine Aufregung, was für eine Freude – ein Mädchen, zwei Mädchen, ein drittes! Ihr Vergnügen an Jims – ja, eindeutig Jims, nicht Geraldines – Entscheidung, sie in alphabetischer Reihenfolge zu benennen. Geraldine hatte ihre neue Rolle ziemlich schnell erschöpft. Kein Wunder. Kinder erschöpften jede Mutter. Lola hatte nur ein Kind gehabt und war fünf Jahre lang unentwegt müde gewesen. Ich kann doch auf sie aufpassen, hatte sie angeboten. Ich kann sie doch ins Bett bringen. Ihnen Mittagessen machen. Sie baden. Kümmere du dich ums Motel, ich mich um die Mädchen. Mit jedem Tag hatte sie weitere Aufgaben an sich gezogen.
Vorsätzlich? Um Geraldine vorsätzlich zu verdrängen? Um sich unentbehrlich zu machen, wie ihr vorgeworfen wurde? Strategisch? Hatte sie sich all den Spaß, die Abenteuer und die Spiele, selbst den Clou mit den singenden ABC-Schwestern einfallen lassen, damit die Mädchen sie mehr als die eigene Mutter liebten, weil sie selbst mit Geraldine nie warm geworden war? Weil Jims Wahl sie so enttäuscht hatte?
Ja? Nein?
Ja.
Aber Jim und Geraldine hatten sie gebraucht. Wenn sie nicht da gewesen wäre, als inoffizielle Nanny und als Bespaßerin, Schiedsrichterin, Beraterin, in all den Rollen, die sie mit Hingabe und Begeisterung ausgefüllt hatte – wie hätten Jim und Geraldine die Motels sonst führen können?
Oder hatte sie ihnen keine Gelegenheit gegeben, das herauszufinden?
Hin und her wogte es in ihr; nach jedem Anflug von Wut über Geraldines Vorwürfe meldete sich eine Stimme, die immer lauter fragte, ob in Geraldines Worten nicht ein Körnchen Wahrheit lag.
Lola öffnete den Schrank. Sie hatte ihre Garderobe schon längst auf wenige Kleidungsstücke reduziert. Wenn ihr nach etwas Neuem war, ging sie in den Laden, ihren privaten Fundus, und kaufte sich einen gebrauchten Schal, einen Überwurf oder Modeschmuck.
Wie lange würde es dauern, alles zu packen? Ihren Gästen zu mailen, es tue ihr leid, aus unvorhersehbaren Gründen sei das Weihnachtsangebot des Valley View Motels nicht mehr aktuell? Nicht eine Stunde. Noch am selben Nachmittag könnte sie im Bus nach Adelaide sitzen. Und wohin dann?
Das Telefon klingelte. Lola ging nicht ran. Sie musste sich auf ihre innere Stimme konzentrieren. Ihre Gedanken. Auf diesen plötzlichen, schockierenden Wandel der Ereignisse reagieren.
Sie entschied, mit Anna zu sprechen. Das tat sie seit einem Jahr, wenn sie Rat und Weisung brauchte.
Sie fragte laut: »Na, Anna, was meinst du?«
Es dauerte immer eine Weile, bis sie sich Annas Antworten vorstellen konnte. Dann aber war es, als wäre ihre älteste Enkelin bei ihr.
Du hast Mum nie gemocht, oder? Und jetzt magst du sie wahrscheinlich noch viel weniger?
»Da hast du recht, mit beidem.« Eine Pause. »Doch ich respektiere sie.«
Weil sie dich verletzt hat? Dich aus der Bahn geworfen hat? All die Jahre damit gewartet hat, dir zu sagen, dass du ihre Töchter in Ruhe lassen sollst?
»So hat sie es ja nicht formuliert. Und ich finde gut, dass sie Rückgrat hat. Ich wünschte nur, sie hätte das an, keine Ahnung, an Metzger Len demonstriert und nicht an mir.«
Und was hast du vor? Willst du hier weiter herumschmollen?
Lola lächelte. Ihre imaginäre Anna stellte dieselben Fragen, die sie von Lola oft gehört hatte. »Ja.«
Ist das nicht ein bisschen feige? Und selbstsüchtig, Dad so zu
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