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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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sicher war. Für Sibyl und Lan war sie eine Fremde, für Harlan nicht, so unangenehm dies auch sein mochte. Und war sie erst bei ihnen zu Hause, dann konnte man wohl kaum erwarten, dass das Mädchen in seiner blutbefleckten Tunika bei ihnen übernachtete, oder? Sibyl überspielte ihre Irritation mit einem entschlossenen Lächeln.
    » Na gut « , sagte sie und ließ die Fingerspitzen abwartend auf dem Esstisch ruhen.
    » Ich gehe heute mal im Büro vorbei « , erwiderte ihr Vater, ein Auge auf das Chronometer in seiner Hand gerichtet. » Fürchte, ich habe mich dort um ein paar Dinge zu kümmern. «
    » Soll ich dann Betty sagen, sie soll mit dem Abendessen warten? « , fragte Sibyl. Sie wusste durchaus, dass die eigentliche Botschaft in Lan Allstons Bemerkung darin bestand, dass es Sibyls erklärte Aufgabe sein würde, sich um die Unterhaltung, die Unterbringung oder, wenn man es so wollte, auch die Befragung von Dovie Whistler zu kümmern.
    » Nicht nötig « , versicherte er ihr und erhob sich. » Schätze, man kann ihn heute Nachmittag noch einmal besuchen. Und wenn ich dort bin, kümmere ich mich darum, ihn nach Hause zu bringen. Wenn ich dann zurück bin, bleibt mit Sicherheit immer noch genügend Zeit für das, was Betty für uns geplant hat. Lammkoteletts, hoffe ich. « Er schenkte seiner Tochter ein Lächeln.
    Sie erwiderte es. » Lammkoteletts wären eine schöne Abwechslung, das stimmt. «
    » Genau. «
    » Mit ein bisschen Minzsoße, was meinst du? «
    » Ich liebe Minzsoße. « Lan seufzte.
    Er schaute sie an, sein Blick wurde weich, und Sibyl wusste, dass er sie, ohne ein Wort zu sagen, beruhigen wollte, was die Angelegenheit mit Harlan anging. Es war ein Blick, den sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte, und sie nahm sich die Zeit, ihn mit einem winzigen, wenngleich nicht ganz überzeugten Lächeln zu bedenken.
    Ohne ein weiteres Wort trennten sich ihre Wege. Lan machte sich an seiner Pfeife zu schaffen, und Sibyl ging zur Schiebetür, um sie auf ihren leicht klemmenden Rädern quietschend beiseitezuschieben. Sie war angespannt, und ihr Magen krampfte sich zusammen, als hätte sie eine bleierne Kugel im Bauch.
    Normalerweise mochte sie das Gefühl, innerlich leer zu sein. Wenn man leer war, ging alles viel leichter. Sauberer. Machte sich Sibyl über etwas Sorgen – und es hatte den Anschein, als sei das derzeit öfters der Fall –, dann war es für sie ein probates Mittel, ihren Kummer unter Kontrolle zu halten, indem sie ihren Körper leer machte. Leere bedeutete Kontrolle. Leere machte frei. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Vater dieser schon lange in ihr schwelenden Angewohnheit bereits auf die Schliche gekommen war, doch vermutlich wusste er längst davon.
    Sibyl legte eine Hand auf ihre Taille und massierte sich den Bauch, als wollte sie nicht nur ihn beruhigen, sondern auch sich selbst, während sie durch den Flur in Richtung Wohnzimmer ging. Dabei fiel ihr Blick auf die Garderobe und ihr eigenes Spiegelbild – ein blasses Gesicht, die Nase spitzer, als sie sie in Erinnerung hatte, die Augen vor Erschöpfung tief gerändert. Rasch wandte sie sich von diesem unwillkommenen Gespenst ihrer selbst ab und öffnete die Tür mit dem lackierten Pfau.

ELF
    B leiches Frühlingslicht durchflutete den großen Salon. In den Sonnenstrahlen schwebten Staubflusen und hingen eine Weile reglos in der stickigen Luft des lange nicht genutzten Raumes. Jemand hatte die samtenen Überwürfe an den Fenstern zurückgezogen und festgebunden, einige der Zierkissen auf dem Diwan aufgeschüttelt und so arrangiert, dass eine ganz neue, gemütliche Unordnung entstanden war. Sibyl schaute sich mit einem überraschten Blinzeln im Zimmer um.
    » Tut mir leid « , sagte eine jugendliche Stimme von der mit gelber Seide bezogenen Sitzbank unter dem Erkerfenster aus. » Es war einfach so finster hier drinnen. Konnte kaum was erkennen. «
    Sibyl folgte der Stimme, wurde zunächst jedoch von dem Sonnenschein, der durch das Bleiglas hereinfiel, geblendet. Eine schmale Gestalt lag ausgestreckt auf der Bank am Fenster, auf einen Ellbogen gestützt, und spielte mit etwas, in dem sich das Licht fing und die Strahlen dann in vielen winzigen Lichtsplittern ausschickte.
    Einen Moment lang fühlte sich Sibyl in eine andere Zeit zurückversetzt. Noch vor drei oder auch vier Jahren waren, wenn sie nach dem Frühstück ins Wohnzimmer gekommen war, die Vorhänge ebenso zurückgezogen gewesen wie jetzt, und sie hatte die Augen

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