Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
ich:
»Was befiehlst du, erhabene Dame?«
Nausikaa sah mich mit schmachtendem Blick etwas schielend an, als wäre sie einer Ohnmacht nahe.
»Ich befehle nicht«, flüsterte sie mit trockenem, rissigem Mund, »ich gehorche.«
Das Silber fiel ihr aus den Händen. Sie wankte, als wäre ihr schwindlig. Mit beiden Händen griff ich nach ihr, um ihren hinsinkenden Körper aufzufangen. Später musste ich oft an diesen Augenblick denken. Kann es sein, dass mein Vater auf seinen Irrfahrten die Geheimnisse der östlichen Schamanen gelernt hat und sich darauf verstand, seinen Willen über Zeit und Raum hinweg geltend zu machen, ihn auf andere zu übertragen? Ich verstehe mich nicht auf diese bösen Zauber. Kirke, meine ruhmreiche Frau, die geweihte Priesterin aller Zauber ist, räuspert sich nur, wenn ich eine Erklärung für diese geheimnisvolle Erscheinung von ihr verlange. Sie sagt, es gebe Zauberworte, deren wirklichen Sinn nur die Frauen verstehen. Vielleicht hat Nausikaa in dem Augenblick, in dem ich ihren ohnmächtigen jungfräulichen Körper umfing, ein Zauberwort geflüstert? Wenn ich Kirke danach frage, lächelt sie sonderbar und schweigt. Dann fürchte ich mich ein wenig vor meiner erhabenen Frau. Ich spreche diese Sache auch nicht gern an.
Gewiss ist nur, dass, als ich – mit einer vorsichtigen und dennoch hastigen Bewegung, denn ich konnte mich nun nicht mehr beherrschen – Nausikaas knabenhaft sehnige und dennoch weiblich geschmeidige Taille umfasste und wir beide das Bewusstsein verloren. Das Blut sprach mächtig wie eine Botschaft in meinem Körper. Das Blut meines Vaters schrie in meinen Gliedern. Rückblickend bin ich sicher, dass Pallas Athene alles um uns herum verzaubert hatte: den Palast, dessen Hausvolk wie durch Zauberhand aus unserer Nähe verschwunden war, sodass niemand den Saal betrat, in dem der fremde Wanderer einen so eigenartigen Abschied von der edlen Tochter des Hauses nahm; die junge Frau, die in diesem Augenblick mich umarmte, aber hinter deren Lidern die Erinnerung an meinen Vater brannte; und mich, den Wanderer, den die Götter dazu ausersehen hatten, auf den Spuren des Lichtbringers zu reisen, fortzusetzen und zu beenden, was er – hier und dort in der Welt – zerstreut oder verlogen angefangen und beiläufig stehen gelassen hatte wie ein großer Künstler ein unvollendetes Meisterwerk.
War das der Moment des Zaubers? Gewiss weiß ich nur, dass Nausikaa, als ich zu mir kam, mit geschlossenen Augen, weiß und rosafarben auf einer mit Purpurstoff bedeckten Liege lag. Ich saß zu ihren Füßen. Wir regten uns nicht. Alles war so plötzlich und unerwartet geschehen, wie Menschen gar nicht entscheiden oder handeln können: Nur die Götter und die Mächte der Natur können mit so unmittelbaren Befehlen zu den Lebenden sprechen.
»Nausikaa«, begann ich ergriffen, »was mein Vater versprochen hat …«
Nausikaa gab mir mit geschlossenen Augen ein Zeichen zu schweigen. Sie griff mit einer suchenden Bewegung nach mir, und so – mit blinden Fingern mein Gesicht ertastend – verabschiedete sie sich mit sanftem Streicheln von mir. Diese Bewegung war schon die Bewegung einer Frau. Aber mir schoss das Blut ins Gesicht, weil sie mich nicht so streichelte wie eine verliebte Frau einen Mann, sondern wie eine befriedigte Frau ein erschlafftes männliches Glied.
Leise sagte sie:
»Geh!«
Ihre Stimme klang warm, aber erhaben. Ich musste gehorchen. Der Zauber, der der Persönlichkeit meines abwesenden Vaters entströmte, hatte seine Wirkung getan. In diesem Augenblick kam mir der Verdacht, dass Ulysses im Abenteuer den eigentlichen Sinn und Zweck des Daseins sah und zu diesem Unternehmen, das seine eigenen Grenzen ständig überschritt, mich, den Sprössling seines Blutes, und vielleicht noch andere Abkömmlinge als Helfer auserkoren hatte. Ich bekam eine Gänsehaut, bibberte und glühte zugleich. Ich stand auf.
»Sag ihm«, fuhr Nausikaa sanft, mit geschlossenen Augen und einem blassen Lächeln fort, »ich danke ihm, dass er sein Versprechen gehalten hat.«
Dies war das erste und letzte Mal in meinem Leben, dass ich hörte, dass mein strahlender Vater sein Wort gehalten hat. Ich glaubte, die göttliche Frau spotte, und ging rückwärts.
»Denkst du an das Salz?«, flüsterte ich überrascht.
Sie öffnete die Augen. Sie waren tiefgrün und klar wie das Wasser der Buchten von Scheria in der Morgendämmerung.
»Nein«, sagte sie ruhig und setzte sich auf. Sie strich ihr Kleid glatt.
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