Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Nereiden, stand Nausikaa in der Tür.
VI
»Iss von unserem Brot und trinke von unserem Wein!«, sagte sie leise.
Ihre Stimme klang sanft und melodisch wie eine siebenrohrige Flöte. Die Phaiakenprinzessin strahlte so eine edle, knabenhafte Vornehmheit aus wie die Göttinnen des Waldes; ihre Erscheinung faszinierte mich.
Nun folgten eigenartige Augenblicke. Nach dem Vorausgegangenen, den groben Reden, den erregten und misstrauischen Beschuldigungen, füllte sich der glänzende Saal mit betörendem Licht und ahnungsvoller Stille. Vom Sims des silbergerahmten Fensters erhob sich eine weiße Taube und flog mit langsamen Flügelschlägen zur Bucht, wo die sinkende Sonne einen Felsen mit goldenem Dunst umrahmte. Die Form des Felses erinnerte tatsächlich an die Reste eines beschädigten, auf der Sandbank zusammengebrochenen Schiffes. Wir beide – die jungfräuliche, göttliche Erscheinung und ich, der bis aufs Blut gekränkte Wanderer – sahen der auffliegenden Taube nach, und heute weiß ich, dass wir beide dasselbe dachten: Pallas Athene, die treue Freundin unseres Hauses und meines Vaters, die erhabene Beschützerin unserer Familie, war wieder einmal in Gestalt einer Taube über die Landschaften unseres Lebens hinweggeflogen. Die Wut in meinem Herzen erlosch. An ihrer Stelle blieb nichts anderes als Erwartung und verzaubertes Staunen.
Nausikaas Hand flatterte wie die weißen Flügel der Taube. Auf Befehl der Prinzessin verneigten sich alle tief und verließen rückwärtsgehend den Raum. Das junge Mädchen eilte mit schwebenden Schritten zu dem reich gedeckten Tisch. Aus einer silbernen Kanne goss sie Wein in einen Kelch, und mit bloßer Hand reichte sie mir ein mit Räucherlachs belegtes Gebäck. Das Feuer ihrer Augen brannte in den meinen, wie wenn das Wasser des südlichen Meeres am Morgen Helios’ Strahlen widerspiegelt. In dienender und dennoch erhabener Haltung stand sie vor mir. Ich spürte den frischen Orangenduft ihres Mundes. Kein anderer Lebendiger hörte ihr Flüstern. Sie hauchte:
»Iss und trinke!«
Ich gehorchte. Als ich den letzten Bissen geschluckt und den Kelch mit dem feurigen Trank bis zur Neige geleert hatte, fuhr sie leise fort:
»Er hat dich mir versprochen.«
Im ersten Augenblick glaubte ich, sie hätte mir etwas in den Wein gemischt und ich sei betrunken. Aber Nausikaas heißes Flüstern hörte nicht auf. Wir standen ganz nah beieinander. Der Duft ihres Mundes und ihres Haares, würziger Balsam südländischer Pflanzen, strömte auf mich ein. Mein Hirn trübte sich. In diesem Moment sah ich nichts anderes von der Welt als Nausikaas Augen, die brannten wie die Augen der Priesterinnen, wenn sie zu Ehren des Dionysos einen Tanz aufführen und ihnen vom Reigen schwindlig wird, weil der Augenblick der Erfüllung schon nah ist. Ihre raschen, seufzerartigen Worte stieß sie so leise hervor, dass sie niemand hören konnte, nur die Götter und ich.
»Er hat dich mir versprochen«, wiederholte sie. »Ich habe dich sofort erkannt. Deine Augen und Ohren …« Sie streckte die Hand nach mir aus. »So stand er vor mir, als er aus dem Gebüsch kam. Gischt und Laub klebten ihm am Körper. Aber seine Augen brannten wie die deinen jetzt. Später sagte er, er könne nicht bei mir bleiben. Er sagte, er könne nicht der Meine sein, weil die Götter etwas anderes befohlen hätten. Er sagte, er habe einen Sohn, der ihm ähnelt und den er eines Tages zu mir schicken werde, Blut von seinem Blut. Er hat dich mir gegeben. An seiner Stelle hat er dich mir gegeben, damit du erfüllst, wozu er nicht genug Zeit hatte. Jetzt bist du hier. Ich habe dich erwartet.«
Sie zitterte am ganzen Leib, ihre Stimme klang verschleiert. Dieses nach Orangen duftende, geflüsterte Geständnis betörte mich. Ich hatte das Gefühl, mit mir spielten Kräfte, die mächtiger sind als der menschliche Wille, und wir beide – die feenhafte, luftige und dennoch mit ihren körperlichen Reizen deutlich wahrnehmbare junge Frau und ich – seien nicht mehr Herr unserer selbst. Als sollte ich fortsetzen, was mein Vater begonnen hatte, und dem Befehl eines erbarmungslosen und boshaften Gesetzes folgen, das der Lichtbringer selbst erlassen hatte. Als wäre ich kein Mann und keine eigene Persönlichkeit, sondern ein Organ vom Körper meines Vaters, das sich von ihm gelöst hat und jetzt den Willen seines Besitzers in der Welt vollstreckt. Ich spürte das zum ersten Mal, zum ersten Mal in meinem Leben. Nicht zum letzten. Verwirrt stammelte
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