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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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gefürchteten Göttin. Meine achäischen Schiffsleute stammelten in abergläubischem Entsetzen, dass die Nymphe mit Menschenknochen heize, und weigerten sich, das Schiff zu verlassen. Wir vereinbarten, dass meine Begleiter auf dem Schiff bleiben sollten und ich allein an Land gehen würde. Man erwartete mich bereits. Lakaien von etwas grimmiger Erscheinung, bärtig, aber in hübschen, selbst gewebten Kleidern empfingen mich – einfache Satyrn, wie ich später erfuhr, die im Haushalt der Göttin die Hausarbeiten verrichteten. Diese wild aussehenden, in Wirklichkeit jedoch eher kindlichen Wesen – Satyrn und Silene – sowie ihre weiblichen Verwandten von niederer Herkunft, die Oreaden und Najaden, waren Diener, aber zugleich auch so etwas wie Familienangehörige. Sie lebten auf der Insel wie ärmere Verwandte, die für Kost und Logis im Haushalt arbeiten. Meine Mutter hatte mich gewarnt, dass ich mit den Nymphen und ihrer weitverzweigten Sippschaft nicht vorsichtig genug sein könne: Von ihr wusste ich, dass die Liebe der Nymphen für irdische Sterbliche verhängnisvoll sein kann, weil sie den Untreuen vernichten wie Daphnis und denjenigen, der ihre Liebe zurückweist, gnadenlos beiseiteräumen wie beispielsweise den tugendhaften Einfaltspinsel Philoktetes. Jetzt, da ich auf den Spuren meines hehren Vaters zur Wohnstatt der fürchterlichen Göttin unterwegs war, fielen mir alle mahnenden und besorgten Worte und Ratschläge ein, die ich im Zusammenhang mit den Nymphen jemals gehört hatte. Ich beschloss, meinem Vater in nichts nachzustehen und in der Höhle der menschenfressenden Alten nicht mein Leben zu lassen.
    Wieder einmal musste ich jedoch lernen, dass die Wirklichkeit anders ist als die Vorstellung. Anscheinend ist das die Lehre, in deren Besitz ein Kind eines Tages erwachsen wird – das einzelne Kind ebenso wie die kindliche Menschheit. Auf dem Weg, der zu Kalypsos Wohnstatt führte, fiel mir selbst in meiner bedrängten seelischen Verfassung auf, dass die berüchtigte Toteninsel, die als Nabel des Meeres bezeichnet wird und in einem schrecklichen Ruf stand, in Wirklichkeit ein Garten Eden war. Zwischen den Erlen, Zypressen und Eichen beschattete reiches Laub den mit duftenden Kräutern und sattgrünem Rasen bewachsenen Weg, der zur Höhle der Nymphe führte. Vor allem die Eichen betrachtete ich mit Ehrfurcht, denn auf der Insel Ithaka wuchsen keine solchen Bäume, und ich wusste von Mentor, dass die menschliche Rasse ihren Ursprung von diesen mächtigen, weitverzweigten Baumriesen herleitet. Farn, riesige Lianen, Geißblatt und Efeu wanden und schlängelten sich überall und verflochten sich mit dem Laub der Urwaldbäume, die dunkle, feuchte Schatten warfen. Und von allen Seiten war das Rauschen des Wassers zu hören – das Rieseln der süßen, erfrischenden Quellen klang für meine Ohren, die an die verschmachtende, auf Regen lauernde Stummheit des wasserarmen Ithaka gewöhnt waren, als würden die Najaden im Wald mit kristallenen Instrumenten musizieren. Die Fülle, der mürbe Boden, die Üppigkeit der von Süßwasser durchtränkten fruchtbaren Erde fielen einem überall ins Auge – diese Pflanzen- und Wasserpracht war natürlich etwas anderes als der künstliche Reichtum, der einen auf der Insel Scheria empfing. Zwischen dem Laub sah ich manchmal vorbeihuschende Gestalten, weder Schatten noch Körper, und ich erschauerte ehrfürchtig, denn ich vermutete nicht ohne Grund, dass die Ahngeister der Menschheit, die Hamadryaden, die Baum-Geister im schattigen Laub des Waldes dahinhuschten. In Scheria war die Pracht ein Werk von Menschenhand gewesen, angetrieben von dem ränkespinnenden und habsüchtigen Willen der Menschen. Hier schien mir diese andere, erhabene und duftende, aus Pflanzen, Schatten, Licht und Quellrauschen gewebte Pracht nicht von menschlichen, sondern von halbgöttlichen und göttlichen Händen geschaffen worden zu sein. Der irdische Wanderer konnte sich auf dieser vom menschlichem Willen noch unbezähmten Insel, wo die Erde den Sterblichen noch nicht diente, nur als verlegenen und geduldeten Ankömmling betrachten. Die Wälder, Gewässer, Bäume und Vögel führten hier noch das andere, unverdorbene Leben, das vor dem Erscheinen des Menschen für die Elemente der Erde natürlich gewesen war.
    Göttliche Pracht war dies, ohne menschliche Schnörkel. Ich begriff, warum man die Nymphen als Meisterinnen der Web- und Spinnkunst bezeichnete, denn die Spuren ihrer Hände zeigten sich auch in den

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