Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
»Über den Ursprung der Menschen weißt du jetzt schon alles. Der Ursprung der Götter, die Zusammenhänge, die verwandtschaftlichen und blutsmäßigen Bindungen – das ist eine geheimnisvollere Wissenschaft. Die Einzelheiten verstehen nicht einmal die geringeren Götter. Alles, was ich sagen kann, ist die einfache Wahrheit über den Ursprung der Welt. Das ist das Wenigste, was du wissen musst, bevor du zu den Menschen zurückgehst und in den Fußstapfen deines Vaters deine irdische Laufbahn antrittst.«
Dankbar blinzelte ich und antwortete leise, dass ich demütig auf ihre Belehrung warte.
»Da gibt es nichts zu lehren«, sagte die Nymphe freundlich. »Der Ursprung der Welt ist eine ganz einfache Geschichte, die sogar ein Kind versteht. Im Anfang war die schwarzflüglige Nacht, also die Schöpfung von Chaos, Erebos und Tartaros«, erzählte sie im Plauderton. »Die Nacht legte ein Ei, aus dem der goldflüglige Eros schlüpfte. Das weißt du doch hoffentlich?«
»Mein Lehrer Mentor«, stammelte ich verlegen, »hat während der Abwesenheit meines Vaters vergessen, mir dieses Märchen zu erzählen.«
»Märchen!«, rief Kalypso aufgebracht. »Das ist kein Märchen, Kind! Seit die Menschen so maßlos neugierig sind und reden wie ein Wasserfall, sind sie geneigt, die göttliche Wirklichkeit für eine Sage zu halten! Was ihr Sage nennt, das war einmal Wirklichkeit, und was ihr heute, nach den schriftlichen Mitteilungen der keuchenden Sklaven für Geschichte haltet, das ist in den Augen der Götter nichts anderes als die irdische, menschliche Version einer zweitrangigen Provinzlegende. Das wusste auch dein Vater. Er war der erste Mensch, der sich mit allen Konsequenzen der Welt der Menschen zugewandt hat, weil er wusste, dass der Mensch eine mächtige Waffe hat, mit der er sich auch den Handlungen des Wolkensammlers Zeus entgegenstellen kann: den Verstand … Die Götter haben Macht«, flüsterte sie, »aber die Menschen haben Verstand. Mehr oder weniger«, fügte sie nachdenklich hinzu und knabberte nervös an ihrem roten Daumennagel.
Dann, als sie sich bei dieser selbstvergessenen, wenig eleganten Bewegung ertappte, nahm sie rasch die Hand vom Mund und sprach grimmig weiter.
»Märchen! So nennt ihr es! Das ist euer Lieblingswort, wenn ihr von etwas sprecht, das ihr nicht ganz versteht. Der Mythos, dieses große Spielzeug, mit dem die Argeier und Achäer so gerne herumspielen. Dein Vater hat dieses Wort nie in den Mund genommen. Sein Lieblingswort war Logos – der Verstand, der die Sage durchleuchtet. Deshalb war er Mensch«, sagte sie würdevoll und feierlich. »Er wusste, dass es eine Grenze gibt, wo das Märchenhafte, das Göttliche – also die Sage – sich in Wirklichkeit verwandelt und Geschichte wird. Aber er wusste auch, dass die menschliche Geschichte im zauberhaften Element der Zeit langsam zu zerfasern beginnt, sich verfeinert, und eines Tages wird die Wirklichkeit zur Sage. Alles, was vor Troja geschehen ist, die Pest, die Kämpfe, der Verrat, war irdische Wirklichkeit … Aber dein Vater wusste, dass die vielen Einzelheiten sich im menschlichen Verstand verdichten und aus einer menschlichen Unternehmung eines Tages eine Sage wird. Er, der er ganz und gar Mensch war, verfolgte mit großer Aufmerksamkeit die Geheimnisse der Götter und der Menschen, als hoffte er, dass die Kräfte der beiden welterschaffenden großen Geister, des Mythos und des Logos, sich eines Tages vereinen und etwas Glückliches schaffen könnten. Deshalb glaubte er nie, dass es ein Märchen ist, was ich ihm vom Ursprung der Welt, von der Herkunft der Götter und Menschen erzählt habe. Er wusste, dass all dies wahr war. Ja, die Nacht legte ein Ei, aus dem der goldgeflügelte Eros schlüpfte. Die zerbrochenen Schalen dieses Eis bilden den Himmel und die Erde. Der Himmel und die Erde zeugten Okeanos und Thetis … Aber davon scheue ich mich zu sprechen, das wissen ja sogar die Silenen.«
»Natürlich«, erwiderte ich rasch und verlegen. »Nur die Einzelheiten sind unklar …« Zu dieser Bemerkung nahm ich Zuflucht, weil ich gar nichts wusste. »Die Geburt der Götter geschah also damals …«
»Später«, sagte Kalypso überlegen, »viel später wurden die Götter geboren. Im Anfang war nichts anderes, nur Eros. Und am Ende« – sie sprach nun wieder sehr leise – »wenn sie alle gestorben sind, die sterblichen Menschen und auch die unsterblichen Götter, wird wieder nichts anderes sein als Eros. Denn auch die Unsterblichkeit
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