Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
meine Mutter wusste, wie schmerzlich es ist, wegen eines Menschen zu weinen. In diesem Augenblick verstand ich etwas von dem geheimnisvollen Wesen meiner Mutter, von dem Mysterium meiner Herkunft. Ich wagte nichts zu sagen. Die Zeit der Märchen war vorbei. Ich war nackt und ein Mann. An diesem Morgen hatte für mich das Leben begonnen.
V
Ich beschloss, schlau zu sein wie die Schlangen zwischen den Felsen der Bucht von Aiaia, scharfäugig wie die Adler, die über unseren Felsen kreisten, und flink wie die bläulichen Fische im silbernen Wasser der Buchten unserer Insel. Ich beschloss, hellhörig zu sein und die Wahrheit über meine Mutter, Skylla, Glaukos, die Schweine, meine Abstammung und die Weltgeheimnisse herauszubekommen. Skylla hatte gesagt, ich sei ein Mensch. Ich wusste noch nicht, ob das in der Welt der Lebendigen eine Rangerhöhung oder eine Art Rangverlust war. Aber auf alle Fälle beschloss ich, dass ich mich eines Menschen würdig verhalten, dass ich also neugierig sein wollte.
Ein glücklicher Zufall ließ mich bald darauf in den Besitz erschreckender und verhängnisvoll ernster Geheimnisse geraten. Einige Tage nach Skyllas und Glaukos’ aufregender, unheilvoller Ankunft und ihrem schrecklichen und geheimnisvollen Verschwinden eröffnete meine Mutter dem Hausvolk, dass ein neuer Gast erwartet werde. Die Nachricht, dass Hermes, der Gott mit dem flinken Schritt, zu Besuch kommen sollte, war nicht allzu überraschend, denn in meiner Kindheit hatte ich den glattzüngigen Gott mit den weltläufig angenehmen Manieren und dem tadellosen Auftreten öfter in unserem Haus gesehen; er gehörte zum Freundeskreis meiner Mutter und tauchte immer mit besonders schönen Geschenken auf der Toteninsel auf. Trotzdem war meine Mutter diesmal vor Hermes’ Ankunft besonders aufgeregt. Ich war in ihrem Schlafgemach und hörte mit trotzigem Trübsinn – wie in dieser Zeit immer, weil ich seit Skyllas Verlust ständig niedergeschlagen war –, wie meine Mutter den Dienstboten die Befehle zum Empfang des Gastes gab.
»Der erhabene Herr«, sagte meine hehre, aber an diesem Tag außergewöhnlich unruhige Mutter zu den Nymphen, »kommt morgen an und bleibt nur für eine Nacht. Sorgt dafür, dass es der hochrangige Gast unter meinem Dach so bequem wie möglich hat. Ilythia«, sie wandte sich an die älteste Nymphe, die die Aufsicht über die Küche versah, »du weißt, Hermes ist ein großer Feinschmecker. Was willst du uns zum Abendessen servieren?«
Ilythia, die dicke und heftig schnaufende göttliche Köchin, lächelte fröhlich.
»Die Silene haben mir für heute Abend ein fettes Wildschwein versprochen. Wenn ich Zeit habe, es zu marinieren …«
»Hermes steht das Fleisch bis zum Hals, auch das Wildschweinfleisch«, fuhr meine Mutter dazwischen. »Du könntest wissen, dass ein Gott, dem andauernd Menschen, Wildschweine und Ziegen geopfert werden, irgendwann einmal genug von diesen Köstlichkeiten hat. Aber wenn du bis morgen eine dicke, schöne Rinderzunge besorgen könntest …«
»Nichts leichter als das!«, rief Ilythia. »Die Satyrn bereiten sich gerade aufs Schlachten vor. Von der Insel Thrinakia, wo die Rinder deines göttlichen Vaters Helios weiden, kam gerade eine Lieferung Schlachtrinder. Meinst du jedoch nicht, Herrin, dass diese gewöhnliche Speise unter der Würde des Gastes liegt? Dass sie bei einer so glänzenden Feier nicht auf den Tisch gehört? Rinderzunge für einen Gott?«
Meine Mutter winkte nervös ab.
»Schweig!«, befahl sie erregt. »Helios’ Rinder von der Insel Thrinakia haben noch niemandem Glück gebracht«, murmelte sie nachdenklich. Alle schwiegen mit offenen Mündern. Wir konnten nicht wissen, woran sich meine Mutter erinnerte. Dann, als hätte sie die quälenden Erinnerungen verscheucht, wandte sie sich wieder uns zu.
»Hermes ist aber ein Gott«, sagte sie geduldiger, »er kann also ruhig vom Fleisch der Herde meines erhabenen Vaters essen. Es schadet ihm nicht wie anderen, sterblichen Wanderern …« Sie brach ab. »Du musst wissen, Ilythia, dass unter den zahlreichen und vielfältigen göttlichen Aufgaben, die dem strahlenden Hermes von Zeus persönlich zugeteilt wurden, eine ganz wichtig ist: Er soll am Bett der kreißenden Frauen stehen und den Neugeborenen die Sprache geben. Er lehrt die Säuglinge und Politiker lügen, und deshalb ehren ihn die Menschen und opfern ihm unter den blutigen und blutlosen Opfern auch die Zungen der Tiere. Es wäre also nur höflich und eine nette
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