Die Frauen
letzte Begebenheit schildern, meine letzte Erinnerung an ihn.
Es war Ende der Vierziger, jedenfalls nach dem Krieg, und ich war auf dem Weg nach Paris. Irgendwie hatte sich die Idee in mir festgesetzt, dass ich meiner Frau das Land zeigen müsse, in dem ich so viele Jahre verbracht hatte, das unbesiegbare Land der zupackenden Hünen, die uns mit ihrer nicht zu bremsenden Tatkraft, ihren Hot dogs und ihrem Baseball erobert hatten, die grandiosen Städte, die aus den Ebenen emporwuchsen, die Fabriken, die selbst wie Städte waren, und die unbewohnten Weiten der einsamen Prärie, die unseren bescheidenen Inselstaat zehnmal hätte schlucken können. Und natürlich Taliesin. Vor allem Taliesin. Wenn ich ehrlich gewesen wäre (und das wurde ich irgendwo zwischen Utah und Wyoming, während die Nacht sich über die mondbeschienenen Felsspitzen der Uinta Mountains senkte, Setsuko sich an mich schmiegte, voller Angst vor den gaijin-Schlafwagenschaffnern, und ich zum ersten- und letztenmal in meinem Leben hoffte, man werde mich für einen Chinesen halten), hätte ich zugegeben, dass es Wrieto-San war, Wrieto-San allein, der mich quer über den Pazifik zog wie ein Magnet eine Nadel. Ich musste ihn wiedersehen. Musste ihm zeigen, dass ich Tule Lake und das grausige Geschäft, Japan wiederaufzubauen, überstanden hatte. Mehr noch: Ich wollte, dass er Setsuko bewunderte, wollte meine Verbindung zu Borchardt et fils herausstreichen, wollte, dass er mir auf die Schulter klopfte und mir bestätigte, wie sehr ich mich gemausert hatte.
Ich weiß noch, dass mich die Gefühle überwältigten, als der Zug sich dem Bahnhof von Spring Green näherte und zu bremsen begann, als die Hügel zurückwichen, um uns der Ebene und der Stadt zu überlassen, dieser verloren wirkenden Ansammlung von Häusern. Alles war anders und irgendwie doch gleich. Meine Frau beobachtete mich, so fest an mich gepresst, dass wir aus einem Fleisch hätten sein können, dabei hatten wir das ganze Abteil für uns. »Ist alles in Ordnung?« fragte sie und neigte den Kopf, um mich noch genauer zu betrachten. Hatte ich Tränen in den Augen? Tränen der Freude, der Erinnerung, der Nostalgie, des Schmerzes? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich schon. Und als der Bahnsteig in Sicht kam und ich ihn dort stehen sah - Wrieto-San, der gekommen war, um uns persönlich zu begrüßen, umgeben von einem Knäuel Schüler mit rosigen Gesichtern -, konnte ich kaum an mich halten. Ich hatte befürchtet, er könnte uns vergessen oder nur einen Schüler an den Bahnhof schicken. Doch da war er leibhaftig, ehrte mich mit seiner Anwesenheit und erinnerte mich an das unauflösliche Band, das zwischen Schüler und Meister besteht. »Ja«, sagte ich, um Beherrschung ringend. »Ja, alles in Ordnung.«
Der Zug ruckte. Das metallische Ächzen der Bremsen ertönte. Meine Frau schaute von mir zum Bahnsteig und wieder zu mir. »Ist er das?«
»Ja«, sagte ich, und ich konnte sehen, dass er sich über irgend etwas verbreitete, während er mit flatterndem Cape und energischen Schritten vorwärts eilte, das Kinn emporgereckt, sein Stock in Bewegung, die Baskenmütze wie aus eigener Kraft an seinem Kopf anhaftend. Man machte ihm Platz. Tauben stoben auf. Die Schüler hasteten hinter ihm her.
Während wir aus dem Zug stiegen, kam er in großen Schritten auf uns zu, die Schüler in seinem Gefolge lautstark kommandierend, und dann breitete sich dieses unwiderstehliche, offene und natürliche Lächeln auf seinem Gesicht aus, das eine Legion von widerwilligen Kunden auf der ganzen Welt und jede Frau, der er je begegnet war, betört hatte. Mein erster Eindruck? Dass er alt aussah, geschwächt, und dass das Haar auf diesem zerfurchten Monument von einem Schädel weiß geworden war. Aber er war ja tatsächlich alt, über achtzig, wenn ich richtig gerechnet hatte. »Tadashi«, rief er schon aus drei Metern Entfernung, seine Stimme so jung und überschwenglich wie eh und je, »Sie sind ja grau geworden!«
Und dann war er da, und wir verbeugten uns, Setsuko und ich, worauf er sich erst vor mir und dann vor ihr verbeugte, nur ein Senken des Kopfes, und den Gruß wiederholte, den ich ihm vor all den Jahren entboten hatte, als wir uns neben meinem noch heißen Bearcat das erstemal gegenübergestanden hatten: »Hajimemashite. «
»Und Sie, Wrieto-San«, sagte ich und fühlte mich so leicht, als wäre ich mit Helium gefüllt, »Sie sind weiß geworden.« (Das war natürlich nicht respektlos gemeint, ich griff nur
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