Die Frauen
dieses zu kurz geratene Genie?«
Kitty konnte nur daran denken, dass sie hier wegwollte, hinaus in die Kälte, auf die vertraute Straße, und sie dachte auch an Llewellyn, der erst fünf war und sie brauchte, der seinen Vater brauchte, sein Essen, seine Spielsachen und seine Malbücher. Was war mit Llewellyn? Was war mit dem Haus? Und mit Franks Mutter, die im Gartenhaus wohnte? Was war mit ihr? Würde das alles mit großem Getöse zusammenbrechen?
Mamahs Miene wurde streng. »Kein Grund, unhöflich zu werden, Edwin.«
»Bitte«, sagte Frank und nahm tatsächlich Mamahs Hand, als wären sie zwei Kinder auf einem Schulausflug, »ihr müsst verstehen, wie schwierig das alles für uns ist, aber es gibt kein höheres Gesetz als das, welches besagt, dass die Liebe frei ist -«
»Ellen Key«, sagte Edwin bissig. Er hatte sich nicht gerührt, nur die Hände gefaltet, als würde er beten. Oder etwas zerquetschen.
* Ellen Karolina Sofia Key, 1849-1926. Schwedische Feministin, Schriftstellerin, Pädagogin und Radikale. Verfasserin der Bücher Über Liebe und Ehe (1906) und Die Frauen-Bewegung (1909). Mamah war ihre Jüngerin und später ihre Übersetzerin. Eine typische Passage aus Über Liebe und Ehe liest sich etwa so: »So wie Alchemie zu Chemie geworden ist und Astrologie zu Astronomie geführt hat, könnte eine solche Deutung der Zeichen einer Lehre den Weg bereiten, die wir [...] Erotoplastik nennen könnten: die Doktrin, dass die Liebe eine bewusst gestaltende Kunst ist und nicht ein blinder Fortpflanzungstrieb.«
»Genau«, sagte Mamah. »Ellen Key. >Liebe ist selbst ohne Trauschein moralisch, aber eine Ehe ohne Liebe ist unmoralisch.«« Sie sprach den Satz wie eine Schauspielerin, als hätte sie ihn einstudiert, und Kitty wurde bewusst, dass sie ebendies tatsächlich getan hatten: Alle beide, sie und Frank, hatten diesen Auftritt in irgendeinem Salon oder Schlafzimmer geprobt, bis er aufführungsreif war. »Ich habe dich nie geliebt, Edwin, das solltest du wissen, und ich habe nie so getan, als würde ich dich lieben. Jedenfalls nicht mit einer wahren, tiefen, verbindenden Liebe« - hier sah sie Frank mit einem süßlich anhimmelnden Blick an -, »mit einer Liebe zwischen Seelenverwandten. Einer vom Schicksal bestimmten Liebe.«
Es lagen Gemeinheiten in der Luft, ein Ausfallen und Parieren, Grausamkeiten, die wie Eiter aus diesem ganz normalen Nachmittag in jenem alkoholfreien Vorort Chicagos hervorbrachen, der wegen seiner Vielzahl von Kirchen, seiner Ruhe und Gesetztheit, seiner Normalität und Wohlanständigkeit Saint’s Rest genannt wurde, und Kitty wollte nichts damit zu tun haben. Sie fühlte sich so gedemütigt, dass sie kein Wort sagen konnte. Ohne nachzudenken, erhob sie sich, und die drei anderen sahen sie erstaunt an, als hätten sie vergessen, dass sie da war - noch eine Ehefrau und Mutter, die auf dem Altar der freien Liebe geopfert wurde.
»Kitty«, hörte sie Frank sagen. Und Mamah sagte ebenfalls: »Kitty.« Das war alles, was sie herausbrachten, zwei abgenutzte Silben, als könnten sie Kitty, indem sie ihren Namen sagten, dorthin zurückversetzen, wo sie gewesen war, als sie vor fünfzehn Minuten durch die Haustür getreten war.
Sie gab keine Antwort. Sie ging direkt zur Garderobe, nahm ihren Mantel und wehrte Frank ab, als er ihr hineinhelfen wollte, und dann war sie draußen in der beißenden Kälte und kämpfte sich durch das Labyrinth aus Mauern und Winkeln, das Frank errichtet hatte, um die Cheneys vor dem Geschehen auf der Straße abzuschirmen. Sie hörte, dass er ihr etwas nachrief, drehte sich aber nicht um. Und als sie zu dem Wagen kam - dem chromblitzenden Aushängeschild seines Ichs und seiner Selbstliebe, der einzigen Liebe, zu der Frank fähig war, das wusste sie jetzt und würde es immer wissen -, ging sie einfach weiter.
Wochen und Monate vergingen, und nichts änderte sich. Nur dass sie die Cheneys nicht mehr besuchen konnte oder wollte, obwohl sie nur ein paar Blocks entfernt wohnten und das gesellschaftliche Gewebe in Oak Park so dicht war, dass jeder lose Faden sogleich ins Auge stach. Hatte es einen Bruch gegeben? Das wollten ihre Freundinnen wissen, durch und durch schickliche Frauen, die sie seit Jahren kannte.
Sie schnüffelten, sie witterten einen Skandal und waren wie Geier, die über einem Kadaver kreisten. Nein, sagte sie, nein, ganz und gar nicht - sie habe nur alle Hände voll zu tun mit den Kindern. Catherine sei eine richtige junge Dame geworden, und
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