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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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und wieder auf und unter, bis all ihr Ehrgeiz weggebrannt war.
    Miriam fühlte sich nicht ganz auf der Höhe - weder Fisch noch Fleisch, das war es - und überlegte gerade, ob sie vielleicht zu ihrer Tochter Norma nach Chicago fahren sollte oder doch noch mal für ein paar Tage nach San Francisco oder nach Mexiko, irgendwo an die Küste, wo es sauber war und man eine anständige Mahlzeit bekam, die nicht in diese halbverbrannten kleinen Pfannkuchen gewickelt war, die es hier zu allem gab, sogar zu Steak, da erschien ein Mann an der Tür und fragte nach ihr. Leoras Diener - ein Chinese in weißem Jackett und leicht speckiger schwarzer Krawatte - fand Miriam im Garten, wo sie neben dem Pool auf einer Chaiselongue lag und zum drittenmal La Noire idole* las. Sie hüllte sich in ein Umschlagtuch und tappte barfuß durch die dunklen Flure zur Eingangstür.
     
    * La Noire idole, Étude sur la Morphinomanie, von Laurent Tailhade. Paris, Leon Vanier, 1907. Eine Apologie und Feier des Morphiums, als Erwiderung auf Maurice Talmeyrs reißerisches Les Possédés de la morphine verfasst, das den Gebrauch dieses Arzneimittels nach Tailhades Ansicht in einem negativen und falschen Licht darstellte. Zu Miriams Verteidigung sollte man anmerken, dass während ihrer Zeit in Paris - ungefähr 1904 bis 1914 - der Gebrauch von Morphium, insbesondere in modernen und künstlerischen Kreisen, weit verbreitet war und bei einer jungen Frau alles in allem nicht bemerkenswerter erschien, als wenn sie rauchte, Hosen trug oder mit Kokain versetzte Getränke wie den ungemein populären Mariani-Wein zu sich nahm.
     
    Der Mann war ihr unbekannt - geschmeidig, ein Gesicht wie ein Frettchen, schmeichlerischer Blick. »Ja?« sagte sie und schaute auf ihn hinunter, ihr in ein Handtuch gewickeltes Haar kegelförmig auf dem Kopf aufgetürmt.
    »Maude Miriam Noel Wright?« fragte er, wobei sich seine Schultern unter der Jackewanden, als sei er dabei, sich zu häuten. Sein linker Mundwinkel zuckte.
    »Ja«, sagte sie und wollte eigentlich hinzufügen: »Das bin ich« oder »So ist es«, nur konnte sie sich nicht recht entscheiden, und da reichte er ihr auch schon einen fleckigen Umschlag, machte auf dem Absatz kehrt, sobald sie ihn entgegengenommen hatte, und schlenderte davon.
    Der Umschlag enthielt eine Vorladung sowie die Mitteilung, dass Frank Lloyd Wright ein Scheidungsverfahren wegen böswilligen Verlassens in die Wege geleitet habe. Das war alles. Keine Erklärung, keine Nachricht von ihm, keine Vorwarnung oder auch nur der flüchtigste, heuchlerischste Versuch einer Versöhnung. Und was fühlte sie, als sie da stand, das Handtuch um den Kopf geschlungen, die Zehen in den kratzigen Hanf der Fußmatte gekrallt, die rechte Hand vor sich ausgestreckt, die schwarzen Lettern der Vorladung wie winzige Gesichter, die sie anstarrten, bis plötzlich jedes dieser Gesichter nur noch ein Paar speiender Lippen war? Wut. Keine Enttäuschung, keine Überraschung, keinen Kummer, nur dieses eine: Wut.
    Ja, sie hatte ihn verlassen. Natürlich. Jeder hätte ihn verlassen. Selbst eine Heilige, ja selbst die Märtyrer in ihren härenen Gewändern und blutigen Lumpen. Er war unmöglich, konnte einen rasend machen wie niemand sonst auf dieser Welt - mit seinem Gotteskomplex und seinem Perfektionismus, der ihn noch um die kleinste Kleinigkeit ein Aufhebens veranstalten ließ, als hinge sein Leben davon ab, mit seinem Geschnarche, seinen Musikabenden, der unsagbar deprimierenden Trostlosigkeit des ländlichen Wisconsin, wo er sie mehr oder weniger gefangengehalten und jede übergewichtige Hausfrau, jeder glupschäugige Hinterwäldler sie begafft hatte, als wäre ein scharlachroter Buchstabe auf ihr Kleid genäht. Natürlich hatte sie ihn verlassen.
    Aber das hieß nicht, dass sie ihn nicht mehr liebte.
    Bevor sie wusste, was sie tat, hatte sie die Vorladung zerknüllt, und dann riss sie sie in Stücke - jämmerliche kleine Papierfetzen, wie abgeschuppte Haut -, die sie ins Blumenbeet warf. Im nächsten Moment stand sie im Haus, nicht im Haupthaus, sondern in dem Bungalow dahinter, hielt eine Lampe in der Hand - Leoras Lampe, gebraucht gekauft, Plunder aus dem Plunderladen, keine Antiquität - und schlug damit systematisch gegen die weiße Wand. Deren Putz sich vor ihren Augen in einer Lawine weißen Staubs abzulösen begann.
    So fand Leora sie - Miriam hatte wohl geschrien, denn der Kopf des Chinesen erschien in der Tür wie ein Kastenteufel, und im nächsten Moment kam

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