Die freien Amazonen - 3
Camilla, kannst ihr ein bisschen über den Messerkampf und die Selbstverteidigung beibringen, bevor du nach Thendara zurückreitest.«
»Du musst zum Magistrat gehen und Meldung machen, Reva«, sagte Camilla, »denn du bist auf Heathvine gewesen und kennst ihre Familie. Du kannst bestätigen, dass es glaubwürdig ist, wenn dieses Mädchen sagt, Ruyvil habe sie missbraucht. Ich bin diesem Ruyvil einmal begegnet, als er noch ein heimatloser Niemand war, und kann mir gut vorstellen, dass er sich an seiner eigenen Stieftochter vergreift.«
Später an diesem Abend, bevor sie in Gwennis’ Zimmer in ein Rollbett gesteckt wurde, kam Reva herein und stellte Marna eine Reihe von Fragen. Als Reva sie aufforderte, ihr Hemd auszuziehen, fielen Marna all die scheußlichen Dinge ein, die sie über das Gildenhaus gehört hatte. Aber die Frau untersuchte sie nur kurz und meinte: »Ich glaube, du hast Glück gehabt; wahrscheinlich bist du nicht schwanger. Dio wird dir morgen eine Medizin zusammenbrauen, und wenn deine Tage nur durch Schock und Furcht ausgeblieben sind, werden wir es bald wissen. Ich kann jedoch bezeugen, dass du misshandelt worden bist; ein Mann, der ein williges Mädchen nimmt, hinterlässt keine solchen Male. Deshalb kann ich vor dem Magistrat beschwören, du seist vergewaltigt worden und habest nicht, wie deine Mutter behauptet, die Hure gespielt. Dann dürfen wir dich von Rechts wegen aufnehmen. Geh schlafen, Kind, und mach dir keine Sorgen.« Und Marna schlief wie ein Baby.
Das Gildenhaus von Aderes war nicht groß; nur vier Frauen lebten hier ständig, obwohl manchmal reisende Amazonen wie Camilla für ein paar Tage oder ein Jahr blieben. Reva, die Hebamme, verdiente das meiste von dem benötigten Bargeld. Ansonsten verkauften sie Tücher, die sie aus der Wolle ihrer Tiere woben. Marna, die man feine Stickereien gelehrt hatte, regte an, die Tücher mit hübschen Mustern zu verzieren. Sie hatten auch einen Kräutergarten und verkauften Medizinen, und wenn ihre Kühe gekalbt hatten, brachten sie Butter auf den Markt. Es war ein hartes Leben, wie Reva gesagt hatte. Den größten Teil des Tages verbrachten sie mit Weben oder Gartenarbeit.
Tagelang zitterte Marna bei jedem Klopfen an der Tür vor Angst, Dom Ruyvil sei gekommen, um sie wegzuschleppen, aber bald wurde sie ruhig. Sie genoss ihr neues Dasein. Vieles machte ihr große Freude: Sie lernte lesen, und bald hatte sie sich eine schöne Handschrift erworben. Das Kochen und das Scheuern der Fußböden gefiel ihr nicht, aber alle Frauen im Haus wechselten sich bei den schweren Arbeiten ebenso ab wie beim Scheren, Spinnen und Weben der Wolle. Camilla, die alte emmasca, die Söldnerin gewesen war und im Gildenhaus von Thendara lebte, gab Marna ein paar Stunden im Messerkampf und im unbewaffneten Kampf, aber dabei stellte Marna sich nicht sehr geschickt an. Sie war zaghaft und unbeholfen, und je mehr Camilla mit ihr herumbrüllte, desto hilfloser kam sie sich vor.
Wenn sie erst älter sei, sagte man ihr, werde man sie zu dem vorgeschriebenen halben Jahr der Umschulung ins Thendara-Gildenhaus schicken. Inzwischen müsse sie die Sitten der Entsagenden lernen. Meistens beschäftigte man sie im Haus und im Garten, aber eines Tages war Gwennis krank, und da wurde Marna mit Butter zum Markt geschickt. Sie war mehrmals mit Mutter Dio oder Ysabet dort gewesen und kannte die Grundregeln für das Benehmen einer Amazone in der Öffentlichkeit: Sie durfte mit einem Mann nur reden, wenn es um geschäftliche Dinge ging, und mit den Dorfmädchen überhaupt nicht, denn die könnten dafür bestraft werden. Marna hielt das für töricht. Die Mädchen mussten erfahren, dass es ein besseres Leben gab als das ihre, in dem sie Sklavenarbeit für ihre Eltern verrichteten, bis irgendein Mann sie kaufte wie ein Tier. Aber Gesetz war Gesetz, und um überhaupt existieren zu können, waren die Amazonen gezwungen, Kompromisse zu schließen. Dazu gehörte auch, dass sie keine Frau aufnehmen durften, die nicht aus eigenem Entschluss zu ihnen kam. Marna hatte den Verdacht, dass trotzdem ganz diskret angeworben wurde, aber solange sie noch zu jung für den Eid war, musste sie die Vorschriften buchstabengetreu befolgen.
So ging sie zum Markt und konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe. Sie suchte die Milchfrau an ihrem Stand auf und gab ihr ihre Butter. Mutter Dio hatte gesagt, sie brauchten Honig; Marna hatte Päckchen mit Pflanzenfarben in der Tasche und sollte versuchen, sie gegen Honig
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