Die Freifliegerin Ein Hexenthriller (German Edition)
Meter
weiter alles mit ansehen musste, was er mit ihrer Schwester anstellte?
Sie hat übrigens nie mit
Melissa darüber gesprochen. Das war tabu. Bis Melissa die erste Menstruation
bekam:
„Ich möchte nicht, dass er
jetzt da hin fasst“, flüsterte Melissa an jenem Abend, als sie zu Bett gingen.
Dabei standen ihr die Tränen in
den Augen. Miriam spürte intensiv die Traurigkeit und den Zorn ihrer älteren
Schwester. Sie kroch zu Melissa ins Bett, und die beiden Mädchen weinten und
umarmten sich.
Der Vater kam ins Zimmer, als
Miriam noch bei Melissa im Bett lag. Nun näherte er sich zum ersten Mal auch
ihr. Sein Alkoholgeruch und der Mief nach abgestandenem Cannabisrauch hing wie
eine Säurewolke über ihnen. Als er dann seine Hand auch nach Miriam
ausstreckte, begann sie automatisch zu schreien. Sie konnte sich dabei wie von
oben herab zusehen, fühlte sich, als wäre sie aus ihrem Körper gefahren. Und
plötzlich schrie auch Melissa. Es waren wahnsinnige Schreie, alles war voller
Irrsinn in diesen Minuten. Miriam hatte Angst, dabei verrückt zu werden, doch
sie konnten beide einfach nicht mehr aufhören. Sie schrien und weinten so laut,
dass die Mutter hereinstürmte, ohne zu wissen, was geschehen war. Vater war
schon vorher aus dem Zimmer geflüchtet. Miriam schrie eine ganze Stunde lang,
bis sie vollkommen erschöpft war. Melissa beruhigte sich schneller.
Nie hatten die Schwestern der
Mutter ein Wort von den Übergriffen des Vaters erzählt, und nach einer Weile
war der Zwischenfall vergessen. Sie schwiegen einfach, redeten auch miteinander
bis zum heutigen Tag nicht mehr darüber.
Doch eines hatte die kleine
Miriam erreicht mit ihrem Ausbruch: Der Vater kam nie wieder in ihr Zimmer, und
er rührte die beiden Mädchen auch nie mehr an! Einige Zeit später schaffte er
es auch wieder, einen gutgehenden Betrieb aufzubauen, und er schraubte seinen
Alkoholkonsum auf ein erträgliches Maß zurück.
Kurze Zeit danach starb Mutter
an Brustkrebs. Eine schwere Zeit für die beiden Mädchen, die ihre Mutter sehr
liebten. Und für eine Weile stand auch die Angst im Raum, dass der Vater die
jetzt ungeschützten Mädchen wieder anfassen könnte. Doch nichts dergleichen
geschah. Vater hat Miriam und Melissa später dann das Studium finanziert und
alle ihre Unternehmungen selbstlos unterstützt. Die letzten zwei Jahre seines
Lebens (er starb an AIDS) hatte Miriam ihn zu sich in ihre Wohnung genommen und
gepflegt.
Sie erzählt all dies dem Teufl,
der die ganze Zeit über nur den Kopf schüttelt.
„Das muss ja schrecklich
gewesen sein!“, sagt er dann.
„Es war vielleicht nicht so
furchtbar, wie es noch hätte werden können, wenn ich es nicht rechtzeitig gestoppt
hätte. Nicht auszudenken, wie alles verlaufen wäre, wenn wir uns nicht gewehrt
hätten und die Sache weiter eskaliert wäre. Ich hatte schon früh einen sehr
ausgeprägten Widerspruchsgeist, den nicht alle Kinder in meinem damaligen Alter
hatten. Bei mir ist es noch einmal glimpflich ausgegangen. Melissa hat mehr
darunter leiden müssen. Und eines muss ich auch noch dazu sagen: Das Beten hat
mir damals nicht geholfen! Ich betete, dass der Vater heute nicht zu Melissa
kommen möge, dass er diese seltsamen, ekligen und uns verwirrenden Spielchen
wieder vergessen solle. Doch erst als ich mich selbst erhob und wir dann beide
schrien und uns wehrten, hatte der ganze Spuk ein Ende. Mein Papa hatte es
endlich begriffen, hatte vielleicht auch erst jetzt eine Sache, die sich nach
und nach immer tiefer in seine Gefühlswelt und in sein Verhalten eingeschlichen
hatte, verstanden und wieder unter Kontrolle gebracht. Davon zeugt die
Tatsache, dass er es nie wieder getan hat. Ansonsten war er auch immer um uns
bemüht, sorgte, wie schon gesagt, auch dafür, dass wir unser Studium ohne
finanzielle Probleme absolvieren konnten und hat jeder von uns darüber hinaus
nach seinem Tod auch noch so viel vererben können, dass ich mir mein freies
Leben, wie ich es jetzt führe, leisten kann. Ich konnte ihm am Sterbebett in
die Augen schauen, ohne ihn hassen zu müssen, und das macht mich sehr, sehr
glücklich.“
Teufl seufzt tief durch und
schaut sie traurig an.
„Und jetzt meinst du, dass die
selbe Strategie auch in dieser Situation die beste ist?“
Miriam zuckt mit den Schultern.
„Ich gebe zu, dass ich gar
keine Ahnung davon habe, wie es einem Kind geht, das solchen Übergriffen seines
Vaters ausgeliefert ist“, sagt Teufl. „Ich selbst bin in einer sehr
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