Die Frequenz: Thriller (German Edition)
dass niemand hier ist«, sagte er.
»Warum ist hier so viel freier Platz?«, fragte Helena. Es sah aus wie auf einem gut gepflegten Golfplatz, überall Rasen.
Wilson sprang über die Furche, die das Flugzeug gezogen hatte. »Das war mal eine dicht bewohnte Stadt«, sagte er. »Mehr als zwanzigtausend Menschen haben hier gelebt. Dieser Platz war voller Zelte und Marktstände und Unterkünfte aller Art. Mit der Zeit sind die kleineren Gebäude verfallen.«
Esther trabte fröhlich an Wilsons Seite, als machten sie einen ganz normalen Spaziergang.
»Wo sind diese Menschen alle geblieben?«, fragte Helena.
»Vor neunhundertfünfzig Jahren war die Stadt verlassen.«
»Haben die Spanier die Leute vertrieben?«
Wilson schüttelte den Kopf. »Sie denken an die Azteken. Die Maya-Kultur war verschwunden, bevor Hernando Cortez und die Konquistadoren kamen. Das war im frühen 16. Jahrhundert. Diese Stadt war vierhundert Jahre vorher ausgestorben.«
»Was ist passiert?«
»Niemand weiß, was aus den Maya geworden ist. Hier gibt es jede Menge Wasser und Nahrung. Es gibt auch keine Hinweise auf Krankheiten. Diese Gesellschaft ist untergegangen, ohne dass wir den Grund dafür kennen.«
Wieder setzte leichter Regen ein.
Helena spähte zu dem dichten Wald hinüber, der die Stadt umgab. »Wie seltsam«, flüsterte sie. Die Pyramide ragte immer höher auf, als sie darauf zugingen. Helena legte ehrfurchtsvoll den Kopf in den Nacken. »Sie ist gigantisch.«
»Die Maya haben ihre Pyramiden so hoch gebaut, um näher bei ihrem Gott Kukulkan zu sein, sagt die Legende.« Die große Pyramide hatte die typische Maya-Form: zehn gestufte Ebenen, die mit zunehmender Höhe kleiner wurden; an jeder der vier Seiten befand sich eine breite Treppe, die zur obersten Ebene führte, auf der ein quadratisches Gebäude stand. Die Treppen bestanden aus einundneunzig Stufen plus einer umlaufenden Stufe am Ende, insgesamt dreihundertfünfundsechzig – für jeden Tag des Sonnenjahres eine. Wilson lief zur Haupttreppe an der Nordseite, wo neben den extrem steilen Stufen zwei Schlangen der Länge nach herausgemeißelt waren, der Schwanz am oberen, der große, aggressive Kopf jeweils am unteren Ende.
Wilson holte tief Luft. »Das ist der Schlangenberg – so nannten die Maya ihre Pyramide.«
»Entzückend«, meinte Helena. »Was jetzt?«
»Wir steigen hoch.«
Esther sprang aus eigenem Antrieb hinauf.
Mit jedem Höhenmeter lag die Stadt eindrucksvoller da. »Wie sollen wir wieder in die Zivilisation zurückkehren?«, dachte Helena laut. »Wir sind mitten im Nirgendwo. Und wir brauchen früher oder später etwas zu essen.« Der Wald erstreckte sich in alle Richtungen, so weit das Auge reichte. »Nach dem, was Sie mit dem Flugzeug gemacht haben, werden wir kaum wegfliegen können.«
Wilson kratzte sich am Kinn, während er über die Stadt schaute. Dass nirgendwo Touristen waren, wunderte ihn sehr. Vielleicht waren die Straßen versperrt, vielleicht überflutet. »Ich muss gestehen, ich weiß nicht, wie wir von hier wegkommen sollen«, sagte er. »Witzig, nicht wahr?« Der ursprüngliche Plan war gewesen, mit einem Touristenbus mitzufahren.
»Sind Sie jemals ernst?«, fragte Helena.
»Selten.«
Sie wartete, dass er sie einholte. »Sie wissen, früher oder später wird jemand wegen des Flugzeugs kommen, und dann stecken wir in ernsten Schwierigkeiten.«
»Da könnten Sie recht haben.«
Sie blickte ihn böse an. »Und ich werde Ihnen die ganze Schuld geben.«
»Ich würde nichts anderes erwarten.« Je höher sie kamen, desto windiger wurde es. Wilson wischte sich die Regentropfen von der Sonnenbrille, als sie die letzte Stufe genommen hatten, die doppelt so hoch war wie die übrigen. Graue Wolken jagten scheinbar dicht über ihren Köpfen dahin. Die Aussicht war wunderbar, die fluguntüchtige Saab trug zu dem ungewöhnlichen Anblick bei.
Wilson beschwor ein Bild, wie die Stadt vor tausend Jahren ausgesehen haben mochte. Es musste ein Fest der Farben gewesen sein – der Platz angefüllt mit Zelten und Holzhäusern, Menschenscharen, die auf den Märkten einkauften, Krieger, die zu zweit umhergingen, braunhäutig und barbrüstig, mit kunstvollem Federschmuck auf dem Kopf. Es dürften Tausende Menschen gewesen sein. Haustiere wie Ochsen, Hühner und Hunde liefen frei herum. Kochdünste zogen durch die Stadt. Von weitem hörte man Jubel von den Mannschaften auf dem großen Ballspielplatz, die wussten, dass es eines Tages ein Spiel auf Leben und Tod
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