Die Freundin meines Sohnes
das gern mit ihr zusammen geguckt, mit schlechtem Gewissen zwar, aber Spaß dabei gehabt.
»Und du?«
»Ich weiß es ehrlich nicht mehr.«
Alec zog eine Augenbraue hoch, ließ mir das aber durchgehen. »Laura hat mir früher immer Angst gemacht«, sagte er.
»Wirklich?«
»Sie hatte dem Kind doch den Schädel eingeschlagen. Hm, ich weiß nicht mal mehr, wie sie damals ausgesehen hat, ich weiß nur noch, dass ich abends spät an sie denken musste, ich hatte Alpträume, dass der Babykiller mich holen kommt. Babykiller, so haben wir sie in der Schule genannt.«
Mir wurde ganz flau. »Wir hätten mit dir darüber sprechen sollen.«
»Aber?«
»Aber«, sagte ich, »was sie getan hatte, hat uns ja auch beängstigt. Es hat uns beängstigt, was unseren Freunden passiert ist.«
»Wirklich?«
»Klar. Und es hat uns beängstigt, wie nah diese Art von Gewalt unserem kleinen Elfenbeinturm kommen konnte. Bis dahin hatten wir geglaubt, Round Hill sei eine Stadt, in der Gewalt nicht … wo so etwas einfach nicht passieren konnte. Und dann ist es eines Tages doch passiert.«
»Obwohl es ja überall Gewalt gibt.«
»Wir bezahlen eine Menge Grundsteuern, um das zu verhindern«, sagte ich, und Alec verdrehte die Augen. Ich musste husten.
»Jedenfalls hat es sich wohl …« Mit einem Mal überkam mich ein Gefühl, das ich seit Jahren nicht mehr hatte. Es war ein Gefühl des Abscheus, so stark, dass mir übel wurde. Ein blindes, nach Atem ringendes Neugeborenes in einem Toilettenbecken, dem Tod geweiht. Ich sah den feinen Flaum auf seinem Köpfchen und seinen Gliedern, die rosa gesprenkelte Brust, das schmerzverzerrte Gesicht. Die mageren Beinchen strampelten. Die Daumen erbsengroß. Es rang nach Luft. Keine Mutterbrust, keine Wärme, nur das kalte Porzellan des Beckens.
»Dad?«
Ich hatte nicht eine Sekunde an das Urteil des Staates New Jersey geglaubt.
»Es hat sich wohl … » Ich holte tief Luft, setzte neu an, »… alles zum Guten gewendet.«
Alec nickte. Sein Bein stoppte. Es kostete mich viel Kraft, den Abscheu von damals langsam aus mir herausströmen zu lassen, ich retuschierte der Reihe nach die Bilder, die ich im Kopf hatte. Ich reinigte die Toilette in der Bibliothek, wischte das Blut auf, wischte den Toilettensitz ab, hob das Neugeborene aus dem Becken, legte es Laura in den Arm (aber Laura sah jetzt aus wie die dreißigjährige Laura, schimmerndes rotes Haar, ein Ring mit Perle). Ich retuschierte immer mehr und so kräftig, wie ich konnte. Keine Laura mehr, kein Baby mehr. Noch eine kleine Anstrengung, und die Stadtbücherei von Round Hill war in meiner Vorstellung wieder bloß eine Bibliothek, die Toilette bloß eine Toilette, und alles wurde wieder gut.
»Hat es sich bestimmt«, sagte Alec. »Zum Guten gewendet.«
In der Küche der Sterns schien Laura so charmant, so clever, sie war ganz anders als das tumbe, nervöse Mädchen aus meiner Erinnerung. Was war in den vergangenen dreizehn Jahren mit ihr geschehen? Zuerst kam sie ins Gateway House, eine psychiatrische Einrichtung im County Morris, in der psychisch Kranke, nicht aber straffällig gewordene psychisch Kranke, untergebracht waren, ein entscheidender Etappensieg für die Sterns, denn das bedeutete, dass sie über Lauras Behandlung immer Bescheid wussten und dass Laura die Einrichtung verlassen durfte, sobald die Ärzte sie für geheilt erklärt hatten, und nicht abzuwarten brauchte, bis der Staat New Jersey den Tod ihres Kindes für abgebüßt hielt. Die Erklärung kam, als Laura neunzehn war. Die Ärzte fanden, ihr Zustand habe sich wieder stabilisiert, die lähmende Depression sei überwunden, und eine so unglückliche Konstellation verschiedenster Faktoren (Schuld, Angst, Serotoninungleichgewicht), die in Laura diese Wut erzeugt und sie zur Kindsmörderin auf einer Toilette in Round Hill gemacht hatte, war für die Zukunft ausgeschlossen. Laura wurde in die Obhut ihrer Eltern entlassen. Iris holte sie aus der Klinik ab, sie fuhren zusammen nach Newark zum Flughafen und flogen zu Iris’ Bruder Lee, der auf Oahu eine auf Exoten spezialisierte Tierrettungsstation betrieb. Dort gönnten sich die beiden eine halbjährige Tochter-Mutter-Auszeit. Iris, die in der Bank bereits ein wenig ins Hintertreffen geraten war und nie die Finanzkanone werden würde, die sie hätte sein können – das außerordentliche Maß an Aufmerksamkeit, das ihre Tochter forderte, hinderte sie daran –, zuckte dabei nicht mit der Wimper, auch wenn sie, was größere Tiere
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