Die Freundin meines Sohnes
etwas zu Ärzten wie mir durchdringen würde.
»Dr. Falls«, flüsterte ich leise.
Falls war mit seinen Studenten immer gut ausgekommen. Schließlich war er nicht soviel älter als wir, und wenn ich es mir recht überlegte, hatte zwischen ihm und mir vielleicht so etwas wie Freundschaft bestanden. Nach dem Unterricht oder bei zufälligen Begegnungen im Krankenhaus flachsten wir herum. Er hatte immer einen etwas derben Humor. Er backte sehr gern und brachte oft dutzendweise Plätzchen mit, die er verschämt auf dem Campus verteilte, beim Backen entspannte er. Das schlimme Gerücht kam auf, dass er schwul sei. Wenn ich geglaubt hätte, ich könnte einmal in seine Fußstapfen treten, und sei es fünfzig Schritt hinter ihm, wäre ich vielleicht ebenfalls Neurologe geworden. Aber ich kannte meine Grenzen: damals wie heute.
Die Männer waren drei Meter vor mir stehengeblieben, um ihr Gespräch zu beenden. Ich sah sie an, wollte aber den Eindruck vermeiden, dass ich lauschte. Irgendetwas über ein subdurales Hämatom. Wir standen in der Nähe des OP. Falls würde wissen, wie man herausbekam, was bei meiner Frau los war. Wenn einer das konnte, dann er.
Fünf Minuten, sieben, und die zwei unterhielten sich immer noch. Meine Stimme verselbständigte sich, ich konnte es nicht verhindern. »Dr. Falls«, sagte ich, diesmal laut. Die Männer blickten nicht auf. Ich wartete, bis der andere sich verabschiedet hatte und in die andere Richtung davonging.
»Dr. Falls«, sagte ich zum dritten Mal, als John Falls entschlossen in meine Richtung schritt. Als er näherkam, sah ich die Narbe an seiner Stirn – die hatte ich vergessen –, ein zorniger Strich von einem Unfall beim Stabhochsprung.
»Dr. Falls«, sagte ich. Er blickte nicht auf. Sein Gehör hattewohl mit den Jahren gelitten. Vor fast dreißig Jahren hatte ich bei ihm Seminar gehabt, war nächtelang aufgeblieben und hatte gebüffelt, meine Hochzeit stand bevor, Elaine wollte, dass ich mit ihr nach Long Island fahre, mir anschaue, ob mir die Tischfarben und die Blumengestecke gefallen, ich war jedoch so eingespannt mit meinem Medizinstudium, dass mir das herzlich schnuppe war. Dr. Falls und ich trafen uns eines windigen Nachmittags auf ein Bier im hinteren Teil der alten Kinsale Tavern, und ich erzählte ihm alles über meine zukünftige Frau und ihr Genörgel. Er wollte damals selbst gerade heiraten, und wir tauschten unsere Eindrücke aus.
»Dr. Falls«, sagte ich noch einmal, als er näherkam. »John.«
Der Neurologe schaute in meine Richtung. Traurigkeit und Distanziertheit lagen in seinem Blick.
»Ja?«
»Pete Dizinoff«, sagte ich. »Hm, ich war …«
»Verzeihung?«
»Ich war am Sinai Ihr Student«, sagte ich. »Pete Dizinoff. Meine Frau ist im …«
»Oh«, sagte er. Zwinkerte. »Dizinoff, ja, klar. Kann ich Ihnen helfen?«
»Meine Frau ist im OP, Drüsengangskar …«
Und dann war sehr laut sein Pager zu hören. Ich trat einen Schritt zurück. Ärzte wie Falls standen nie im Dunkeln. Sie brauchten nie vor einem OP-Saal zu warten, bis sich ein Kollege erbarmte und ihnen sagte, was darin vor sich ging.
Er zwinkerte abermals. »Entschuldigung«, sagte er. »Tut mir leid, ich muss wirklich …«
»Natürlich«, sagte ich und sah Dr. Falls nach, wie der mit wehendem Kittel und blitzblanken Schuhen klack-klack-klackend durch den schmutzigen Korridor davoneilte.
Ich schob die Hände in die Taschen und ließ das Kinn auf die Brust sinken.
Dann spürte ich eine warme Hand auf meinem verschwitzten Rücken. »Ist schon okay, Dad«, sagte Alec. Ich hatte nicht mal bemerkt, dass er hinter mir stand. Zusammen sahen wir zu, wie Dr. Falls um die Ecke bog und verschwand. Wir gingen an unsere Plätze zurück, mein Sohn ins Wartezimmer zu den Zeitschriften und ich so nahe, wie ich mich traute, an den OP heran, ich würde mich hüten, noch einmal den Mund aufzumachen. Ändern konnte ich durch Fragen sowieso nichts. Ein besserer Arzt hätte sich das vorher überlegt.
Heute kommt es mir so vor, als hätte sogar dieser traurige Moment sein Gutes gehabt. Denn Elaine überlebte: Sechs Stunden und vierzig Minuten, nachdem sie zur OP gerollt worden war, fuhren die Schwestern und Assistenten sie in den Aufwachraum – sie war grau im Gesicht, kaum ansprechbar, aber unzweifelhaft am Leben. »Wir haben den ganzen Tumor entfernt«, sagte der Chirurg. »Restlos.« Alec stand neben mir. Ohne einander anzusehen, drückten wir uns die Hände. Damals waren wir glücklich – ich
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