Die Friesenrose
Brust und spürte keinen Herzschlag mehr. Der Grashalm, den ich daraufhin unter seine Nase hielt, bewegte sich nicht. Und die Blutlache um ihn herum wurde immer größer. Panik und Entsetzen, diesmal nicht durch die Gebote der Vernunft zu beschwichtigen, breiteten sich in mir aus. Ich hatte einen Menschen umgebracht. Verwirrung überwältigte mich. Was sollte ich nur tun? Ich musste Hilfe holen. Doch wer würde mir glauben, dass es Notwehr gewesen war? Und dann war da eine Stimme in mir, die danach fragte, ob es denn tatsächlich Notwehr gewesen war. Hätte Hans es denn wirklich zum Äußersten kommen lassen? Waren die Gefängnisse nicht voll von Frauen, die behaupteten, man habe ihnen Gewalt antun wollen? Und wussten nicht alle, dass Hans und ich ein Paar gewesen waren? Bei niemandem hatte ich mich je über seine Brutalität beschwert. Sie würden mir nicht glauben, wurde mir plötzlich bewusst. Ein Zittern überkam mich, und ich kniete lange neben der Leiche, ohne klar denken zu können. Doch dann ordneten sich meine Gedanken wieder, und ich wusste auf einmal, dass ich fortgehen musste, so wie iches geplant hatte. Keinesfalls durfte ich hier sein, wenn man Hans’ Leiche fand. Wenn man Hans’ Leiche fand ... Und plötzlich wusste ich, was außer zu fliehen noch zu tun war. Ich nahm den Knüppel und warf ihn in hohem Bogen ins Wasser. Dann griff ich nach dem Körper des Mannes, der mich so sehr gequält hatte, zog ihn auf die Kaimauer und zerrte so lange an ihm, bis sein eigenes Gewicht ihn schließlich vornüberkippen ließ und er wie ein nasser schwerer Sack im Wasser versank. Der Mond war wieder hinter den Wolken verschwunden, und außer einer dunklen Masse, die in ständiger Bewegung war, konnte ich nichts weiter erkennen. Das Meer hatte mir meinen Vater, den ich so sehr liebte, genommen. Als Ausgleich dafür musste es mir nun helfen, den Mann, den ich hasste, verschwinden zu lassen. Für den Bruchteil einer Sekunde blickte ich noch einmal in die Tiefe, dann suchte ich meine Reisetasche und begann, so schnell mich meine Füße trugen, zu rennen. Immer wieder drehte ich den Kopf. Geräusche um mich herum machten mich glauben, verfolgt zu werden, doch niemand hielt mich auf. Ich lief und lief. Schließlich musste ich stehen bleiben, um Atem zu holen, und lehnte mich erschöpft gegen die rohe Steinmauer eines Hauses. Ich hatte niemanden gesehen und hoffte, dass auch mich niemand gesehen hatte. Meine Lungen drohten zu zerspringen, und ich versuchte, meine Fassung wiederzugewinnen. Nur nicht mehr rennen, denn das war zu auffällig. Ich befand mich ganz in der Nähe des Marktes und damit nicht weit entfernt vom Droschkenplatz. Also würde ich ganz ruhig dorthin gehen und die nächstbeste Kutsche nehmen, egal wohin die Reise ging. Fort, nur fort, dröhnte es in meinem Kopf.
Und so geschah es. Ich ließ mich einfach fahren, weiter und immer weiter. Dann, irgendwann, nahm sich eine ältereFrau meiner an. Sie hatte etwas Mütterliches und spürte vielleicht, wie verstört ich war. Meine Reisegefährtin befand sich auf dem Weg zu ihrer Tochter nach Emden. Auf ihre Fragen, woher ich kam und wohin ich wollte, antwortete ich einsilbig, und bald gab sie ihre Neugier auf. Und ich selbst habe danach für lange Zeit meine Vergangenheit ganz einfach tief in mir begraben. Es gab kein Gestern mehr für mich, nur noch das Heute und Pläne für die Zukunft. Als wir zur Übernachtung in einer Gaststube einkehrten, lieh ich mir von der Wirtin eine Schere.“
„Eine Schere?“, fragte Sumi verblüfft.
„Ja.“ Tjalda lächelte, und für einen Moment sah Inken das junge Mädchen vor sich, das sie einmal gewesen war. „Als meine Reisegefährtin schlief, schnitt ich mir im Mondlicht das lange dunkle Haar ab. Zum einen tat ich es, um nicht erkannt zu werden, aber auch, um eine andere zu werden. Mit dem Haar wollte ich meinem alten Leben entfliehen. Natürlich kann man seine Vergangenheit nicht ablegen, aber das begriff ich erst später. Damals jedoch wollte ich ein Zeichen setzen und brauchte einen symbolischen Neuanfang. Am nächsten Morgen war meine Begleiterin entsetzt, doch ich fühlte mich befreit, und es ging mir so gut wie lange nicht mehr. Dies war der erste Schritt auf dem Weg in die Freiheit. Der zweite Schritt waren die Hosen, die ich mir zulegte. Ich brauchte und wollte keine Männer mehr in meinem Leben, nie mehr. Und tilgte daher alles, was sie an meiner Erscheinung locken könnte. Niemals wieder würde ich beim so
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