Die Friesenrose
Sie würde innerlich zerbrechen, sich auflösen, sich selbst verlieren, so wie sie ihn verloren hatte, ihn, den sie nie besessen, nie gekannt hatte. All die Tage, in denen nur sein Bild sie vor dem Wahnsinn bewahrt hatte. Wie hatte sie sich nur so täuschen können! Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle. Und dann die Nächte, in denen sie sich ihm geschenkt hatte. Was waren sie für ihn gewesen? Nichts! Eine Abwechslung zu anderen Frauen, denen er ebenfalls Liebe versprochen hatte. Er hatte alle getäuscht: Tjalda, die Engländerin, die sein Kind erwartete, und sie. Wenn sie nur weinen könnte. Aber ihre Augen blieben trocken. Inken konnte nicht mehr klar denken. Nur die eine unbeantwortete Frage kam wieder und immer wieder in ihr auf. Warum? Warum musste er andere so verletzen? Weil er seinerseits in der Vergangenheit von Menschen verletzt worden war? Trat er deshalb die Liebe mit Füßen?
Inken musste eingeschlafen sein. Bruchstückhaft zogen Szenen und Bilder im Schlaf an ihr vorüber und lösten Gedanken und Erinnerungen aus, die wahllos kamen und gingen: Bildervon ihrer Flucht vor den Franzosen, den Jahren im Moor, den gemeinsamen Stunden mit Cirk in der kleinen Moorkirche und auf Norderney, dem Onkel, tot zu ihren Füßen liegend, und immer wieder schreckliche Fantasien, die von der Gefangenschaft ihres Vaters erzählten, von Folter und Hunger. Wenn Inken dann vermeinte, es nicht mehr aushalten zu können, erschien über all dem Schrecklichen Cirks Gesicht. Doch gerade wenn Inken sich daraufhin in Sicherheit wog, zerbarst Cirks Kopf unter den rhythmischen Schlägen einer unwirklichen Trommel.
Das Trommeln war real, und etwas in Inken wollte erwachen und auf das Klopfen an der Tür, das Rufen ihres Namens reagieren, aber ein anderer Teil in ihr hielt an der trügerischen Sicherheit des Schlafes fest, um der Wirklichkeit noch für eine Weile zu entfliehen.
Inken wälzte sich hin und her, bis sich endlich der weiche Vorhang des Vergessens schützend um sie legte. Seufzend ergab Inken sich seiner Umarmung, und ihre Seele fand für kurze Zeit Frieden.
Als sie schließlich erwachte, sah Inken über sich Tjaldas besorgtes Gesicht. „Wie geht es dir, mein Kind?“ Inken setzte sich auf, und Tjalda ergriff ihre Hände und betrachtete sie besorgt. Inkens Kopf war leer, und eine unsägliche Schwäche machte es ihr unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann aber schob sich ein Satz in den Vordergrund, ein Satz, der tonlos aus ihrem Mund kam: „Ich werde Cirk Hogestraat niemals wiedersehen.“
Tjalda drückte Inkens Hände. „Er ist fort.“
Inken schloss die Augen, während Tjalda ihrem Ärger freien Lauf ließ. „Dieses unmögliche Mädchen hat all meine Versuche, vernünftig mit ihm zu reden, zunichte gemacht. Eine schreckliche Person.“ Sie wartete, doch Inken reagiertenicht. „Das alles muss ein schreckliches Missverständnis sein! Cirk liebt dich und ...“
Inken öffnete unter unbeschreiblichen Mühen die Augen. „Nein!“ Ihr verzweifelter Schrei unterbrach Tjaldas Redefluss. „Sprich niemals mehr seinen Namen in meiner Gegenwart aus. Dieser Mann ist für mich gestorben.“
Tjalda löste seufzend ihre Hände und strich Inken sanft über die Stirn. „Es wird sich alles klären. Jetzt ruh noch ein wenig, mein Kind“, meinte sie beruhigend, erhob sich und ging aus dem Zimmer.
Inken ließ sich in die Laken zurückgleiten und schloss die Augen. Tot, sie war tot, obwohl ihr Herz noch immer schlug. Aber der Schmerz in ihrem Körper war wieder allgegenwärtig und sagte ihr im Gegensatz zu ihrem Kopf, dass sie noch lebendig war. Inken empfand den Schmerz als angenehm. Sie überließ sich ihm, bis der Schlaf sie wieder umfing und erneut ins Reich des Vergessens zog.
Als Inken zum zweiten Mal erwachte, kehrten ihre Kräfte zurück, und ihre Gedanken ordneten sich. Noch immer bohrte sich der Schmerz tief in ihr Herz und wühlte darin herum. Aber sie wusste, dass ihre Bitterkeit unberechtigt war. Cirk Hogestraat gehörte ihr nicht, hatte ihr nie gehört. Die wenigen Anzeichen eines Gefühls für sie hatte sie in ein Meer verwandelt, obwohl es doch nur Tropfen waren. Nein, ihn traf keine Schuld. Er war der Mann, den sie von Anfang an in ihm gesehen hatte. Einer, dem man nicht vertrauen konnte. Einer, der in jedem Hafen ein Mädchen hatte. Und was Inken am meisten erboste, einer, der Frauen in Schwierigkeiten brachte und sie danach einfach sitzen ließ. Hatte Cirk zuletzt nicht sogar noch angedeutet,
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