Die Frühreifen (German Edition)
hätte auch Laure gern gevögelt, aber das hatte nicht geklappt. Und jetzt war Lisa tot.
Was zwang ihn eigentlich, das für sich zu behalten?
»Wovon sprichst du überhaupt?« fragte ihn Richard stirnrunzelnd.
Er antwortete, daß er über das spreche, was er in einer Nacht im Februar auf dem See gesehen habe. Vom Bootshaus aus. In einer Nacht, in der er nicht habe schlafen können.
Er sah sich nach Evy um, und seine Augen begannen zu glänzen, während er wieder diese Februarnacht heraufbeschwor, diese eisige Februarnacht, in der er ein Boot beobachtet hatte, das im Mondschein der Mitte des Sees entgegenglitt.
»Ich nenne das keinen Unfall«, sagte er, ohne Evy aus den Augen zu lassen.
Nach dem Tod eines zärtlich geliebten Angehörigen, nach dem Verschwinden eines glühend verehrten Wesens, nach der Leere, die uns das Herz an einem so verhängnisvollen Tag zusammenschnürt, neigen die meisten von uns dazu, den lieben Verstorbenen zu idealisieren, einen Heiligen oder eine Heilige aus diesem Menschen zu machen, ein Idol der Vollkommenheit – wie dumm so etwas auch sein mag –, doch in Bezug auf Lisa war Evy nicht in diese Falle geraten – im Gegensatz zu Anaïs, die ihr Zimmer in einen Reliquienschrein verwandelt hatte –, was Gaby Gurlitch dagegen anging, war die Sache anders, mit ihr war es etwas ganz anderes. Tatsächlich machte er selbst seine Mutter mit dem Kult krank, den er diesem Mädchen widmete. Er bereitete der armen Laure große Sorgen.
Um Evy wieder zur Vernunft zu bringen, gelang es Andreas, ein paar Studentinnen gegen Bezahlung dazu zu überreden, sich seiner anzunehmen, ehe er alles Interesse an Sex verlor. Vergeblich. Seit er nichts mehr von Gaby hörte, ging es abwärts mit ihm.
Auf einer Fete bei den Aramentis hatte er sich den Kopf mit Punsch und Tranxilium derart zugeknallt, daß Andreas ihn unauffällig hinten durch den Garten fortschleppen mußte und ihn nach Hause brachte – und ihn so, wie er war, unter die Dusche stellte, während sein Großvater, der inzwischen, wie erzählt wurde, nur noch schlaflose Nächte verbrachte, in Pantoffeln hinter der Tür wartete und fragte, ob alles in Ordnung sei.
Ein anderes Mal hatte er in seinem Zimmer unter Gabys Porträt mit der Stirn gegen die Wand gehämmert, zwar nicht sehr heftig, aber eine gute halbe Stunde lang, wie Gina schätzte, die geglaubt hatte, es handele sich um ein Problem in den Heizkörpern – dong, dong, dong. Anschließend zierte seine Stirn eine große, knallrote Beule – die Laure und André nicht hatten verarzten können, weil Evy sie mit ihren Salben ziemlich brutal zum Teufel geschickt hatte. Ehrlich gesagt gab es kein Heilmittel, das ihm in seinem gegenwärtigen Zustand helfen konnte.
Er verbrachte den größten Teil seiner Freizeit in der Baumhütte inmitten des Laubs, kehrte also mit einer zusätzlichen Wunde, von der noch niemand sagen konnte, wie tief sie war, zu seinem Ausgangspunkt zurück. Inzwischen war es wirklich Herbst geworden, und der Wind dort oben war manchmal ziemlich frisch, wie Andreas meinte, der es sich nicht nehmen ließ, selbst auf die Gefahr hin, sich erneut den Hals zu brechen, seinem blassen Kumpel Gesellschaft zu leisten – genau wie Anaïs, die nicht zögerte, ihre Pfunde den einfachen Sprossen aus altem verblichenen Holz anzuvertrauen, um der Einsamkeit zu entrinnen.
Aber was kümmerte es Evy, ob er sich einen Schnupfen holte?
Ich habe mich gefragt, was geschehen wäre, wenn Laure nicht mitten in den Dreharbeiten gesteckt hätte und so entzückt darüber gewesen wäre, sich wieder lebendig zu fühlen, wie sie allen, die es hören wollten, unentwegt versicherte. Wäre sie plötzlich von den Ereignissen erschlagen worden oder wäre sie buchstäblich explodiert? Auf jeden Fall schien sie etwas benommen zu sein – und diese Benommenheit dauerte an, als bade sie in lauwarmem, reinem Wasser, aus dem sie nicht herauskommen wollte.
Evy bemerkte nur, daß sie an den Fingernägeln kaute. Aber sie knabberte noch nicht an ihrem Arm, und daher verzichtete er darauf, mit ihr darüber zu sprechen, und ließ sie in der Obhut von Éric Duncalah.
»Jeden Morgen«, vertraute dieser Evy an, »bete ich darum, daß sie da ist, und zittere vor Angst, das schwöre ich dir. Ich bewundere ihren Mut und hoffe, daß sie durchhält. Ich hoffe, daß sie nicht vor Abschluß der Dreharbeiten zusammenbricht. Verstehst du, die Konsequenzen, die Folgen wären derart katastrophal, daß ich nicht mal daran denken
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