Die Frühreifen (German Edition)
darfst du nie vergessen.«
Sie waren mit ihren Yogaübungen fertig und ruhten sich aus, versuchten sich trotz der ernsten Lage auf ihren Schaumgummimatten zu entspannen. Sie hatten bei Judith Zuflucht gesucht, um etwas Ruhe zu finden. Große leuchtende Wolken zogen am azurblauen Himmel vorüber, wälzten sich wie Schaumrollen über dem leuchtend roten Wald. Laure bewegte ihren Kopf noch ein wenig hin und her, um ihre Halsmuskeln zu lockern. Sie hörte ihrer Freundin zu, die ein nicht sehr schmeichelhaftes Bild der jungen Generation entwarf.
»Weißt du, nichts berührt sie wirklich. Abgesehen davon, was in einem Kreis von fünfzig Zentimetern um sie herum geschieht, berührt sie nichts. Man glaubt im allgemeinen, sie seien fähig, Gefühle wie Barmherzigkeit, Mitleid, Edelmut, Toleranz usw. zu empfinden, doch das ist ein Irrtum. Haben sie überhaupt je davon gehört? Sie sind eiskalte Wesen und sonst nichts. Deshalb will ich kein Kind haben. Dabei mag ich Kinder wahnsinnig gern, das weißt du ja, ich bin geradezu vernarrt in sie. Aber nicht diese kleinen unempfindlichen Rohlinge, nicht diese gleichgültigen Wesen, nicht diese Zombies. Nein, die will ich nicht.«
Andreas und Evy spuckten auf den Boden, während sie an ihrem Haus vorbeigingen, denn Judiths Einstellung ihnen gegenüber schien in der Luft zu schweben wie eine phosphoreszierende Uranwolke, schwer zu verfehlen. Judith war etwas jünger als Laure. Aber sie scherzte nicht, was dieses Thema anging: Sie hatte sich die Eileiter unterbinden lassen.
»Man bietet mir an, einen neuen Vertrag zu unterzeichnen«, verkündete Laure und betrachtete die blauen Hortensiensträucher, die ihre Blüten verloren und deren Blätter hinter dem Becken, das mit Platten aus Vulkangestein umrandet war, immer blasser wurden. »Das bedeutet, daß ich gleich mit einem anderen Film weitermachen kann, wenn ich will. Und das bedeutet auch, daß ich die Möglichkeit habe, weiterhin den Kopf in den Sand zu stecken, um nichts zu hören und nichts zu sehen.«
»Gut bezahlt?«
Laure nickte. Ja. Noch dazu saumäßig gut bezahlt. Axel Mender ist ein widerwärtiger Kerl, eine schamlose Sau, aber es gibt Schlimmere als ihn, und er unterzeichnet Schecks, ohne lange zu zögern. Im übrigen drängte Éric sie, das Angebot der MediaMax anzunehmen. Denn ihm zufolge dürfe Laure keine lange Pause einlegen, sondern müsse sich ihren Platz wiedererobern, überall auf der Welt glänzen, in aller Munde sein.
»Du weißt ja, wie das läuft«, seufzte sie. »Wie sehr man sich da hineinknien muß, unter Einsatz aller Kräfte. Da bleibt einem nicht mehr viel Zeit, sich um andere Dinge zu kümmern.«
»Es gibt einfach Prioritäten im Leben. Dagegen kannst du nichts. Deine Karriere geht über alles. Die Leute, die dir das Gegenteil erzählen, sind bestimmt nicht mehr da, um dich zu trösten, wenn es zu spät ist. Denkt Richard an dich? Nein. Denkt Evy an dich? Nein. Tut mir leid. Sie denken nicht an dich. Der eine ist nicht besser als der andere. Punkt, Schluß! Laure, es wäre wirklich dumm von dir, dich aufzuopfern.«
»Ja, du hast recht… Aber was hättest du an meiner Stelle getan? Findest du, ich bin zu streng gewesen? Habe ich ihn stärker betrogen als er mich? Ich habe nicht den Eindruck. Er hat mich nicht mehr angerührt, wie du weißt. Wochen und Monate, ohne daß er das geringste Interesse, das geringste Begehren für mich gezeigt hat. Wie viele Frauen hätten das ertragen? Dabei war ich damals knapp dreißig und glaubte noch, das Glück läge mir zu Füßen.«
Judith begutachtete ihre Fußnägel und seufzte dann. Laure schüttelte den Kopf.
»Sollte ich vielleicht meine Zeit damit verbringen, auf einer Bank zu sitzen und zu stricken? Sollte ich vielleicht warten, bis er sich zwischen seiner Frau und den Drogen entschied, und das, wo er sich immer für die Drogen entschieden hat? Sollte ich ihm etwa meine ganze Jugend opfern – wo ich nicht einmal an die Reinkarnation glaube?«
Sie lachten beide leise.
Laure hatte aus lauter Verzweiflung vier Pfund abgenommen, und das war ideal für die Nacktszenen. Ihr junger Partner, der auf ihr lag und einen Geschlechtsakt mimte, flüsterte ihr unentwegt Komplimente ins Ohr. Sie antwortete zwar nicht darauf, aber sie waren ihr durchaus willkommen in einem Moment, in dem sie öde Weiden und ausgetrocknete Flüsse überquerte, in stille Täler vordrang und mit Gestrüpp überwucherte Berge erklomm. Sie nahm diese Komplimente dankbar entgegen, während
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