Die Frühreifen (German Edition)
wiedergefunden, einfach so, dabei war sie mit ihm noch nicht fertig, nein, ganz gewiß nicht, nach allem, was er ihr zugemutet hatte, ganz gewiß nicht, nach allem, was dieser Junkie ihr im Leben vorbehalten hatte. Hatte er das alles vergessen?
Von den Tabletten bekam sie Ringe unter den Augen. Jeden Tag mußte die Maskenbildnerin wahre Wunder vollbringen, und die Produktion hatte akzeptiert – Axel Mender war eine lüsterne alte Sau –, also die Produktion hatte akzeptiert, daß sich ein bekannter Diätetiker um ihre Gesundheit kümmerte, sie Tag für Tag wieder auf die Beine brachte und die Folgen ihrer Schlaflosigkeit und ihres furchtbaren Erwachens aufspürte und mit seinen Wundermitteln, seinen Gesichtsmasken und seinen aus Aprikosenkernen gewonnenen Cremes übertünchte und beseitigte. Aber wie auch immer, entweder sie schlief nicht und war am frühen Morgen erschöpft, oder aber sie schlief zu tief und sah morgens so zerknittert aus, als habe man sie aus einer Waschmaschine gezogen. Und all das im wesentlichen wegen dieses verdammten Junkies. »Vielen Dank«, sagte sie, während sie ihn im Geist vor sich antanzen ließ. »Nochmals vielen Dank. Vielen Dank für alles, Richard… Ganz ehrlich, vielen Dank für alles, das muß ich wirklich sagen.«
An manchen Abenden hätte sie vor Wut fast geweint. Sie fand, daß ihr Leben eine Katastrophe war, und geriet dadurch etwas in Panik. Dabei verliefen die Dreharbeiten reibungslos, die Muster waren gut, und immer mehr Leute gratulierten ihr zu ihrer Arbeit und wetteten, daß sie einen Preis für ihre schauspielerische Leistung bekommen könnte, der sie wieder in die vorderste Linie katapultieren würde. Aber sie war gar nicht so entzückt über diese Aussicht, wie sie sich vorgestellt hatte. Jetzt, da dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt war, fand sie das längst nicht mehr so interessant und stand der Sache eher ratlos gegenüber. Sie empfand nicht mehr diese Gier, von der neunundneunzig Prozent der Künstler auf dieser Erde – und hundert Prozent der Filmschauspieler – besessen waren. Éric Duncalah hatte völlig recht, wenn er meinte, daß eine Geste von Evy sie in den Grenzen des Möglichen glücklich machen würde. Morgens verpaßte sie ihn, denn bei Tagesanbruch fühlte sie sich wie ein Stein auf dem Grund eines Brunnens, total fertig von einem bleiernen Schlaf oder völlig trunken vor Müdigkeit. Wenn sie hörte, wie sich die Kaffeemaschine in Gang setzte, war es zu spät. Daher tat sie alles, um sich die Abende freizuhalten, um ihrem Sohn etwas Zeit zu widmen, aber sie hatte noch nicht die Gelegenheit gefunden, ernsthaft mit ihm über all das zu reden, ganz zu schweigen davon, daß André ihnen ständig in die Quere kam. Dieses alte Ekel.
Judith Beverini nutzte ihre gemeinsamen Yogastunden, um Laure zu überreden, die alte Nervensäge vor die Tür zu setzen – als brauche jemand in diesem Haus einen Fitnessraum, als fehle es diesem Haus an Muskeln.
»Ich an deiner Stelle würde seine Gegenwart nicht ertragen«, erklärte Judith. »Außerdem ist das wirklich seltsam, finde ich. Wenn Rose da wäre, dann wäre das ja noch was anderes. Hör zu, ich hab das Gefühl, er lungert im Haus herum. Diesen Eindruck vermittelt er auf jeden Fall. Was sagst du, wie alt ist er? Brrr… Doch mindestens siebzig, nicht wahr?«
Judiths Mann war nach China zurückgeflogen, um bei den Kommunisten in Nanking den Nußknacker zu inszenieren, so daß die beiden Frauen stundenlang über die angeborene Untreue der Männer und ihre Begabung in Sachen Gemeinheit und Heuchelei tratschen konnten. Aber das brachte Laure nicht von dem Gedanken ab, daß ihr Mann und ihre Kinder sie nacheinander verlassen hatten, und diese Feststellung versetzte sie in panische Angst.
»Es wäre nur normal, wenn Evy unglücklich wäre«, meinte Judith. »Ich sage, es wäre normal, aber bei den meisten von ihnen ist nichts wirklich normal. Woher soll man wissen, was er denkt? Ich verstehe diesen Jungen nicht. Das weißt du. Ich verstehe ihn nicht und werde ihn nie verstehen. Das ist nun einmal so.«
Laure wußte nicht recht, was sie davon halten sollte. Seit Lisas Tod konnte sie die Kluft ermessen, die sie von ihrem Sohn trennte, und sie war nicht imstande, Judith über seine Verfassung aufzuklären.
»Die Jugendlichen haben einfach kein Herz«, fuhr Judith fort, die dabei war, ihre Fußnägel rubinrot zu lackieren. »Kein Herz, und sie kennen kein Mitleid. Behalt das immer im Gedächtnis. Das
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