Die Frühreifen (German Edition)
zu holen, also gut, vielleicht gab es keine befriedigende Antwort, vielleicht gab es nichts, was Licht in diese finsteren Abgründe bringen konnte.
Es war ein Uhr morgens, und der diensthabende Krankenpfleger, der tagsüber als Schauspieler arbeitete, hatte ihn erkannt und ihm für ein Autogramm auf einem Kärtchen mit der Adresse der Klinik einen Whisky in einem Plastikbecher angeboten. Er hatte noch Blut an den Händen, auf der Vorderseite seines Hemds und seltsamerweise sogar auf seinen weißen Mokassins, die er ohne Socken trug. Aber das Absurdeste war, daß er Evys Hose in der Hand hielt und nicht mal wußte, warum.
Er erinnerte sich vage daran, daß er sie ihm ausgezogen hatte. Es war ihm nicht gelungen, ein vernünftiges Wort aus diesem Verrückten – diesem unergründlichen Vollidioten – herauszukriegen, und so hatte Richard selbst nachsehen müssen, was los war, woher all dieses Blut stammte, das sich wie durch einen Zauber vorn auf der Hose seines Sohns ausbreitete.
Diese ganze Geschichte hatte ihn müde gemacht. Während er darauf wartete, daß sein Sohn verbunden wurde, hatte er nur noch einen Wunsch, einen heftigen Wunsch: in sein Arbeitszimmer zurückzukehren und sich für den Rest der Nacht oder noch länger darin einzuschließen. Diese Welt zu vergessen, in der sich Kinder die Hose mit Glasscherben vollstopften – diese Welt der Fahrten mit Vollgas im Mondschein, der Kübel voller Blut, des schauerlichen Lichts und des Gerennes durch die Gänge zur Notaufnahme.
Er hatte Lust, um eine Valiumtablette zu bitten oder den Typen wiederzufinden, der ihm einen Whisky angeboten hatte – auch wenn er ihm einen ganzen Stapel Autogramme geben und ihn notfalls auf den Mund küssen mußte –, aber er begnügte sich damit, zwei junge Krankenschwestern zu beobachten, die sich am Empfangsschalter unterhielten oder private Telefongespräche führten, um die Zeit totzuschlagen.
Dann setzte sich ein Arzt namens String – Richard las sein Namensschild zweimal: Dr. string –, ein rundlicher Mann mit kleinen lebendigen dunklen Augen, neben ihn, um eine Zigarette zu rauchen, er erklärte Richard, daß es etwas länger gedauert habe, weil ein Verband in dieser Körpergegend ziemlich heikel sei und sich verdammt schwer befestigen lasse. Aber er war mit dem Ergebnis zufrieden und versicherte, daß die Sache in ein paar Tagen wieder in Ordnung sei.
Richard nickte, um ihm zu danken. Dr. String nickte ebenfalls und erklärte, wie sehr es ihn bekümmere, daß man ihm so viele Blagen bringe, die alle auf die eine oder andere Weise durchgeknallt waren.
»Aber ich behaupte nicht, daß ich ein Mittel dagegen wüßte«, fügte er hinzu. »Vielleicht haben sie ihre Gründe dafür.«
Es wurde immer später. Alles wurde immer unangenehmer.
»Hören Sie zu, Doktor, was soll das heißen? Was meinen Sie damit?« fragte Richard. »Haben Sie Kinder? Haben Sie wenigstens Kinder?«
Er hatte natürlich keine. Mal wieder so ein Junggeselle mit total überholten Ansichten, mit leeren Worten, die einem Bauchschmerzen bereiteten, so abgeleiert und abgedroschen waren sie. Dr. String hatte keine achtzehnjährige Tochter, die in einem See ertrunken war, und keinen Sohn, der den Versuch machte, sich selbst zu verstümmeln, sein Geschlechtsteil in Scheiben zu schneiden, er hatte gut reden. Wie kam er dazu, den Eltern die Schuld in die Schuhe zu schieben! Wie kam ausgerechnet dieser Dr. String dazu, den Eltern vorzuwerfen, sie hätten nicht alles getan, was in ihrer Macht stand, das war ja geradezu ein Witz! Der Gipfel des Hohns, Dr. String!
Aber Richard beließ es dabei, denn in diesem Augenblick öffnete sich plötzlich eine Flügeltür hinten im Flur, und ein Sikh mit einem Turban schob Evy im Rollstuhl herbei.
Evy war nicht mehr weiß, er war grau. Sein Gesicht war so grau, daß es aussah, als hätte er sich in Asche gewälzt. Um das nicht sehen zu müssen, wandte sich Richard um und ging kopfschüttelnd zum Empfangsschalter. Die beiden jungen Krankenschwestern erwarteten ihn in einem warmen Lichtkegel, sie wirkten unkompliziert und voller Lebensfreude, bereit, mit einem Typen zu scherzen, der Bücher oder so was ähnliches schrieb und die dunkelhaarige Frau geheiratet hatte, die man oft im Fernsehen sah. Die eine hieß Magali, die andere Rita. Die ältere von den beiden war vermutlich noch keine fünfundzwanzig. Während Richard einen Scheck unterschrieb, fragte er sie mit spitzbübischer Miene, ob sie ihre Eltern
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