Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
Vom Netzwerk:
nicht ahnen, daß sie da ist. Weißt du, dieses Mädchen hat schon immer einen etwas schwierigen Charakter gehabt, das mußt du doch zugeben.«
    Evy spürte eine ungewöhnliche Wärme in seiner Hose, aber sein Hirn wußte mit dieser Information nichts anzufangen. Und sein Vater stand da und erzählte irgendwelchen Scheiß, verkündete, daß er nicht viel von Gaby halte, dabei hatte ihn niemand danach gefragt.
    »Wie kannst du so über jemanden reden, den du gar nicht kennst?« fragte Evy mit ungläubig verzogenem Gesicht. »Wie oft hast du denn mit ihr gesprochen?«
    »Diverse Male. Oft genug. Aber wir wollen uns doch nicht wegen einer solchen Kleinigkeit streiten, nicht wahr?«
    Richard wollte sich nicht mehr streiten, weder mit seinem Sohn noch mit seiner Frau, noch mit dem Papst, wenn es möglich war. Er war inzwischen siebenundvierzig und hatte begriffen, daß er sich seine Energie besser für den langen Abstieg aufsparte, der allmählich begonnen hatte – und nicht gerade unter den besten Voraussetzungen, dachte er –, und er war bereit, den Preis dafür zu zahlen, denn es war ihm lieber, ein paar Demütigungen einzustecken und für einen Dummkopf gehalten zu werden, als sich mit einem Magengeschwür herumzuschlagen oder sich einen Nervenzusammenbruch zuzuziehen.
    Zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Stunden legte Richard seinem Sohn die Hand auf die Schulter, wobei dieser stumm erschauerte.
    »Aber wenn ich im unpassenden Moment gekommen bin«, sagte er nach einer Pause, »dann möchte ich mich dafür entschuldigen. Wenn das so ist, tut es mir wirklich leid.«
    Er suchte ein wenig Verständnis in Evys Gesichtsausdruck zu finden, aber es war ziemlich dunkel.
    »Sie kommt wieder. Wenn sie einmal gekommen ist, kommt sie bestimmt wieder. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
    »Ich mach mir keine Sorgen«, erwiderte Evy mürrisch. »Es geht um etwas ganz anderes.«
    Einen Augenblick lang war Richard über die Reaktion seines Sohns überrascht – auf jeden Fall mehr als über den Geruch, der in dem Zimmer herrschte, oder die Größe seiner Augen, die zu zwei Schlitzen geworden waren. Er fand es ungewöhnlich, daß Evy so sehr darauf bedacht war, den Unterschied zwischen Gaby und den anderen Mädchen hervorzuheben – und das auf so naive, charmante, kindliche Weise. Zwischen dem, was man mit den einen und nicht mit den anderen machte. War der arme Junge etwa bis über beide Ohren verliebt? Ganz im Ernst?
    Da empfand Richard eine zärtliche Regung für seinen Sohn. Mit zunehmendem Alter verliebt man sich immer seltener, und man muß schon solche Geschichten hören, um sich den Zustand höchster Erregung, den kosmischen Rausch, den hysterischen Drang nach Reinheit ins Gedächtnis zu rufen, und die älteren Leute daran erinnern, daß es so ein Leben tatsächlich noch gibt, sie es aber nicht mehr verdienen.
    »Zu meiner Zeit wurde es als unmöglich angesehen, daß jemand in deinem Alter eine Achtzehnjährige anmachen kann. Das war undenkbar. Unglaublich, wie schnell sich die Sitten ändern.«
    Als er merkte, daß sein Sohn zusammensackte, mußte er an Gaby Gurlitchs Ohnmachtsanfall auf dem Friedhof denken und fragte sich, ob das die neue Mode, ob es chemischen Ursprungs oder nur einfach Zufall war. Wie dem auch sei, er hatte gerade noch Zeit, ihn aufzufangen, während er selbst dabei war, ein paar Jugenderinnerungen wachzurufen, obwohl Evy nicht das geringste Interesse für diese Geschichten zeigte – sein Sohn brach buchstäblich zusammen.
    Schon seit Monaten ließ Richard den einen oder anderen Versuchsballon los. Doch er empfing nur ferne Echos, rein zufällige Zeichen eines fernen Lebens, und konnte keinerlei Verbesserung wahrnehmen. Vielleicht hatten Laure und er ihren Sohn zu spät bekommen. Vielleicht hatte er zu lange seinen Lastern gefrönt und zahlte nun den Preis dafür, von Lisas Tod bis hin zur Gleichgültigkeit seines Sohns.
    Auf jeden Fall ließ sich dieser mit trockenem Mund, weiß wie eine Leiche und mit weichen Knien ohne Widerstand in die Arme seines Vaters sinken.
    »Holla! Au weia!« stieß Richard hervor, während er versuchte, ihn aufzurichten.
    »Aiiiii!!!« brüllte Evy.
    Ein Schrei, der Richard erstarren ließ.
    Was konnte einen vierzehnjährigen Jungen, der scheinbar geistig gesund war, dazu bringen, seinen Slip mit Glasscherben zu füllen? fragte sich Richard – aber manche Jugendliche sprengten sich mitten in einer Menschenmenge in die Luft, und andere taten alles, um sich Aids

Weitere Kostenlose Bücher