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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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in ein Altersheim gesteckt oder sie nur verrückt gemacht hätten, woraufhin die beiden fröhlich lachten.
    Der Sikh hob Evy aus dem Rollstuhl, verfrachtete ihn auf den Beifahrersitz und legte ihm den Sicherheitsgurt an. Richard drückte Dr.   String die Hand, der die Szene nachdenklich betrachtete und etwas eingeschnappt wirkte. Über dem Hügel schien der Mond, legte ein bläulich-silbernes Band auf die Kammlinie und weiter in östlicher Richtung auf das Tal, wo sich ein Windenergiepark befand, und in westliche Richtung, wo die Wälder und Seen waren – dort ließ sich nachts auf der Autobahn am Steuer eines Cabrios ein schöner Ausflug machen, den sich die Trendels jedesmal, wenn sie sich ein neues Auto gekauft hatten, gegönnt hatten, und lange, sehr lange war all das sehr angenehm gewesen, als noch nicht alles den Bach hinuntergegangen war und durch den Schmutz gezogen wurde.
    Im allgemeinen vermied es Richard, auf diese Zeit zurückzukommen, alte Gespenster heraufzubeschwören, die man besser schlafen ließ, und von einer rosigen, fast obszönen, fast zu idyllischen Vergangenheit zu träumen, aber es war nicht immer leicht, sich an diese Regel zu halten.
    Aus den Augenwinkeln beobachtete er seinen Sohn, der eine grünliche Gesichtsfarbe hatte und aussah, als hätte er gerade ein eisiges Bad genommen oder als sei er nach einem Besuch in einem Nachtclub zusammengeschlagen worden, und fuhr langsam, um seinem großen Sohn, seinem glorreichen Schwanzabschneider, der ihm sicher ein paar Erklärungen geben konnte, etwas Zeit zu lassen.
    Nach der rasanten Hinfahrt fuhr Richards Porsche – ein 356, den er als einen wahren Freund betrachtete – auf dem Rückweg gemächlich wieder den Hügel hinauf. Er glitt mühelos durch das Spalier aus finsteren, stolzen Fichten am Straßenrand, ging sanft in die Kurve, paßte sich folgsam, fast in Zeitlupe dem Gelände an, gab in den Haarnadelkurven nur ein kaum hörbares Röhren von sich, da jetzt keine Eile mehr bestand – und er sich auch nicht mehr einer der urplötzlichen, nicht zu beherrschenden Anfälle von Raserei fügen mußte, die Richard manchmal überkamen, bis er nach diesen wahnwitzigen Spritztouren zitternd und schweißnaß kilometerweit von zu Hause entfernt auf einem Parkplatz stand, unfähig, die Hände vom Steuer zu nehmen.
    Jetzt mußte Evy etwas sagen. Jetzt mußte er dafür sorgen, daß die Mauer, die zwischen seinem Vater und ihm entstanden war, nicht noch höher wurde. Was das anging, hatte Richard nicht den geringsten Zweifel. In diesem Punkt war er sich ganz sicher. Und diese Gewißheit war sehr angenehm, oder zumindest sehr erholsam. Es ging nicht soweit, daß er in der Dunkelheit lächelte oder die Hand ausstreckte, um sie vom Fahrtwind liebkosen zu lassen, aber diese genüßliche Fahrweise, die wir erwähnt haben, und die friedlichen Blicke, die er auf seinem Sohn ruhen ließ, bezeugten seinen Entschluß, nicht als erster den Mund zu öffnen. Wenn Evy glaubte, Richard würde ihm in irgendeiner Form Hilfestellung leisten, dann irrte er sich. Ihm Fragen stellen? Ihm Fragen stellen? Nein, nie wieder. Laure und er hatten sich nach Lisas Tod lange genug den Kopf am Schweigen ihres Sohns eingerannt, an seiner mangelnden Bereitschaft, die Sache aufzuklären, zu sagen, wie sich die Dinge genau abgespielt hatten. Weder Tränen noch Wut, noch sonst irgend etwas hatten ihm ein weiteres Wort entreißen können. Nie wieder wollte er so etwas erleben. Nie wieder würde Richard diesen traurigen, schmerzhaften Kampf führen. Nie wieder würde er seinen Sohn um irgend etwas anflehen. Diese Gewißheit beruhigte ihn zumindest. Während sich Evy beharrlich in sein idiotisches Schweigen hüllte, hatte Richard inzwischen einen gewissen Grad an Gleichgültigkeit erreicht und wartete, ohne wirklich zu warten. Er hatte Lust, seinen Sohn zu fragen, ob ihm klar sei, wie traurig die Situation war, aber eine höhere Macht erlaubte ihm, den Mund zu halten.
    Dr.   String zufolge waren sie um ein Haar einem Drama entgangen: die Schnittwunde war zwar ziemlich tief, aber glatt, und sie hatten es nur einem guten Stern zu verdanken, daß es nicht zum Schlimmsten gekommen und Evy eine Blutung erspart worden war, deren Ausgang String in makaberem Ton beschrieb.
    Was für ein guter Stern?
    Richard verließ die Landstraße und fuhr den Lichtern entgegen, die in der Ferne in den Eingängen und hinter den Fenstern all dieser Nachteulen brannten, die sie als Nachbarn hatten. Die meisten von

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