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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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glaubte, es handele sich um einen Scherz.
    »Aber warum hat er das bloß getan?« jammerte sie schließlich mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht. »Ist er denn total verrückt geworden?«
    Sie schob die Fenstertüren weit auf. Genau wie Richard versetzte es auch ihr einen Schock, die Hände in die Hüften gestemmt betrachtete sie regungslos den Himmel, ihre Augen wurden feucht und ihre Lippen zitterten eine Sekunde. Wieder einmal machte Evy keine halben Sachen. Eines Tages würde er sie bestimmt noch umbringen und ihrem Herzen, das schon reichlich ermüdet, reichlich strapaziert und oft genug auf die Probe gestellt worden war, den Gnadenstoß versetzen.
    Von dieser Geschichte wurde ihr speiübel. Richard zog nachdenklich an seiner Zigarette und betrachtete diese Frau, die halb betrunken um drei Uhr morgens heimkehrte und erfuhr, daß ihr Sohn sich unterdessen fast entmannt und wie ein Schwein geblutet hatte.
    »Wundert dich das?« fragte er. »Müssen wir nicht mit allem rechnen?«
    Er hinderte sie daran, die Treppe hinaufzurennen. Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und erklärte ihr, daß sie besser nicht hinaufgehe, weil Evy schlafe, er ruhe sich jetzt aus, das sei wichtiger als ein Besuch seiner Mutter, und zugleich fragte sich Richard, wieviel Freiheit sich Laure ihm gegenüber erlaubte, und die Antwort war bitter. Wenigstens kehrte sie heim, insofern durfte er sich glücklich schätzen. Das war vermutlich die Botschaft: Wenigstens kehrte sie heim. So wurde der Schein zumindest einigermaßen gewahrt. Ab und zu fragte sich Richard, warum er bloß mit dem Heroin aufgehört hatte: Die schönste Zeit seines Daseins waren die Jahre gewesen, in denen er bis zur Nase im Pulver gesteckt hatte. Mal ganz ohne Scherz, das hatte bedeutet, das Paradies gegen die Hölle einzutauschen, sich schweren Enttäuschungen dieser oder jener Art auszusetzen. Wieder in diesem Leben Fuß zu fassen schien manchmal das Dümmste zu sein, was man tun konnte.
    Sie waren an diesem Morgen auf einer Beerdigung gewesen. Sie dachten beide daran. Sie fühlten sich noch ziemlich zerbrechlich.
    »Hör zu, Richard, ich habe die Rolle letztlich doch bekommen.« Ihre Freude darüber schien so groß zu sein, daß sie wie ein ausgeglühtes Stück Kohle wirkte. »Man kann natürlich sagen, daß der Zeitpunkt dafür nicht gerade ideal ist, aber das zu sagen wäre völlig idiotisch, Richard, das zu sagen führt zu nichts.«
    »Ich glaube«, seufzte er, »wir geben dem Jungen kein gutes Beispiel.«
    »In diesem Punkt bin ich mit dir einverstanden. Wir geben ihm das denkbar schlechteste Beispiel, wenn du meine Meinung hören willst.«
    »Zum Beispiel, wenn er seine Mutter in diesem Zustand sehen muß«, fuhr er mit einem gekünstelten Lächeln fort. »Sehen zu müssen, wie seine Mutter am frühen Morgen hereinwankt und sich kaum auf den Beinen halten kann. Hm, was meinst du dazu? Ich vermute, daß ihm das nicht gerade guttut.«
    Sie hatten dieses Thema schon so oft angeschnitten, daß sie sich mit dieser alten Munition nicht einmal mehr weh tun, ja kaum noch nerven konnten. Richards Vorwürfen konnte sie sehr leicht entgegnen, was für ein Albtraum es für sie gewesen war, mit einem Junkie zusammenzuleben, und meistens beließen sie es dann dabei, vor allem seit dem K.-o.-Schlag, den Lisas Tod ihnen versetzt hatte.
    »Hör zu«, sagte sie. »Vielleicht übersteigt das unsere Fähigkeiten. Wirklich. Vielleicht sind wir an einem Punkt angelangt, wo wir nicht mehr weiterkönnen. Das fürchte ich. Was mich angeht, so weiß ich wirklich nicht mehr, was ich tun soll. Ich habe nicht mehr die nötige Energie, verstehst du? Ich kann solche heftigen Schocks nicht mehr ertragen, verstehst du?«
    Richard ließ den Kopf nach hinten auf die Rückenlehne sinken. Über seinen Augen bewegte sich ein von einem nordamerikanischen Indianerstamm gefertigtes Objekt hin und her, das dazu bestimmt war, schlechte Träume abzuwenden, aber Richard war nicht wirklich zufrieden damit. Er fand, daß dieses Ding sein Versprechen nicht hielt. Man mußte schon Laure Trendel heißen, um zu glauben, daß die schlechten Träume verjagt werden könnten, wenn man weder in Mexiko noch in einem Reservat lebte, sondern mitten im Westen, in der Welt der Weißen, der Welt der Telefone, der Wolkenkratzer und des Prozacs.
    Trotz des Halbdunkels wechselten sie einen verlegenen Blick.
    »Werden wir immer schlimmer?« fragte sich Richard laut. »Oder liegt das an den Hormonen, die sie ins Fleisch

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