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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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nur um der Schönheit willen, und zwar mit der ganzen Kraft seiner Seele oder was davon noch übriggeblieben war. Egal, ob er sich dabei in die Hose machte oder entdecken mußte, daß er nur noch eine Leiche, ein hohles Gerippe und als Schriftsteller erledigt war. Er hatte Lust, es herauszufinden. Jetzt wollte er es wissen. Solche Lust und zugleich solche Angst. Aber er wollte wissen, ob er noch etwas taugte. So sehr, daß er mit den Zähnen knirschte. Wissen, ob er noch lebendig war, in dieser seltsamen Oktobernacht, in der der Sommer noch am Himmel schwebte, wissen, ob er überlebt hatte.
    Er wich mit einem Satz zurück, als er das mit Pusteln bedeckte Gesicht von Georges Croze hinter der Fenstertür auftauchen sah. ›Das ist ja grausig‹, dachte Richard, während sein Nachbar mit der flachen Hand gegen die Scheibe klopfte, ›wirklich grausig‹, sagte er sich beim Anblick der rötlichen Eiterbläschen, mit denen der Mann übersät war.
    »Georges, komm herein. Was ist los?« sagte Richard, während er die Glastür aufschob.
    Georges’ Brille saß ziemlich schief, sein silbergraues Haar klebte ihm an der Stirn, sein Atem war heiser, seine Achselhöhlen waren von Schweißrändern umgeben. Er war in Shorts. Seine behaarten weißen Beine zitterten. Seine Knie klapperten wie Kastagnetten.
    Zwanzig Sekunden später verließen die beiden Männer das Haus und rannten durch den Garten in den Wald.

Andreas war unglücklich gestürzt. Er war aus einer Höhe von etwa zehn Metern in die Tiefe gesegelt und dabei auf dem Rücken gelandet, doch er war derart zugekifft, daß er sich über die Tatsache, daß er nicht einmal mehr einen Finger rühren konnte, keinerlei Gedanken machte. Die Ärzte zögerten noch, eine endgültige Prognose zu stellen, aber sie waren um seine Wirbelsäule besorgt. Sie sahen sich die Röntgenaufnahmen an und unterhielten sich darüber. Von diesen Gesprächen sickerte nicht viel durch.
    Die Herbstferien kamen wie gerufen. Er konnte sich seiner Arme bedienen, aber seine Beine blieben bewegungslos, und er flippte fast aus bei dem Gedanken, hilflos und schwach, wie er war, auf seine Mutter und Brigitte angewiesen zu sein, er hatte die Möglichkeit erwähnt, verrückt zu werden und sich in seinem Rollstuhl von einer Felswand zu stürzen. Aber zum Glück änderten die Ferien die Situation: Evy und Michèle konnten morgens kommen und bis abends bleiben. Kein Unterricht, kein Brillantmont, kein Entschuldigungsbrief. Sie konnten ihm ihre ganze Freizeit widmen – und sogar in seinem Zimmer schlafen, wenn es zu hart war.
    Evy und Michèle hatten genickt. Unmöglich, einem Typen nein zu sagen, der sein ganzes Leben lang gelähmt zu bleiben drohte, eine Halskrause trug und einen aus seinen mit safrangelben Flecken umringten Augen anblickte, einem Typen, der um ein Haar ins Gras gebissen hätte, nachdem er wie eine Kiste Blei von der Hütte gestürzt war, weil jemand eine Sprosse sauber durchgesägt hatte. Unmöglich, ihn im Stich zu lassen.
    Man spürte, daß sich das Wetter bald verschlechtern würde, aber noch war es schön. Dany Clarence, der den bewußtlosen Andreas gefunden und Alarm geschlagen hatte, stattete ihm einen Besuch ab, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, und sagte voraus, daß es in fünf oder sechs Tagen regnen würde.
    Brigitte erklärte, daß dieser Dreckskerl – eines Morgens, als Dany Clarence bei den Fortvilles den Rasen mähte, hatte er seinen gesunden Menschenverstand verloren und war auf einen Baum geklettert, um sich nach Caroline und ihr die Augen auszugucken –, also, daß dieser widerliche Dreckskerl keine Ahnung davon habe, und beauftragte ihn, eine Gartenlaube zu bauen, irgend so ein einfaches Gestell aus leichtem Teakholz, in der Andreas sich ausruhen, seine Freunde empfangen konnte und frische Luft bekam, bis er eines Tages wieder seine Beine benutzen konnte. Dany Clarence versprach, sich sofort an die Arbeit zu machen.
    Caroline nahm ein bißchen Lexomil, um durchzuhalten, und widmete sich morgens und abends langen Yogaübungen. Sie steckte außerdem Räucherstäbchen an und versprühte ein muskellockerndes ätherisches Öl in ihrem Schlafzimmer. Nur mit Mühe ertrug sie den Anblick ihres Sohns im Rollstuhl, vor allem, da er sich weigerte, sie näher kommen zu lassen, und bei der geringsten Liebkosung aufschrie.
    Zwei Tage waren vergangen seit dem Abend, an dem Dany sich am Fuß der Roteiche über ihn gebeugt und geglaubt hatte, es handele sich wieder einmal um ein

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