Die Frühreifen (German Edition)
brauchte, ohne es zu wissen: neu belebt zu werden, nach dieser endlosen Durststrecke Gegenstand einer gewissen Bewunderung zu sein, aufgemuntert und ausnahmsweise mal geschätzt zu werden, anderswo und jemand anders zu sein als die Person, die er in den Augen seiner Frau und seines Sohns verkörperte.
Sie blieben eine halbe Stunde unten vor ihrer Haustür im Auto sitzen. Es gab so viel zu sagen über das Schreiben, über die ständige Aufmerksamkeit, die man dem Rhythmus, dem Klang der Worte und diesem ganzen Salat widmen mußte, eine wahre Tortur, aber zugleich auch über das unermeßliche Vergnügen, das man beim Schreiben empfand. Es gab so viele Dinge zu erzählen über die Schwierigkeit, einen einfachen Satz zu formulieren, der Hand und Fuß hat, der sich von allen anderen abhebt, der etwas aussagt, der etwas ausdrückt, der etwas begleitet, der etwas vertieft und der etwas ausströmt. Richard war unerschöpflich auf diesem weiten Gebiet, wenn man ihm nur die Gelegenheit dazu bot.
Außerdem war es etwas ganz anderes, als mit einem alten Knacker, einem Kritiker oder einer total bekloppten Tussi zu diskutieren, die sich für Literatur begeisterte, es war, als ginge er an einem herrlichen Tag mit den Händen in den Taschen spazieren, im Einklang mit sich selbst und der Welt.
Ein solches Glück hatte Richard schon lange nicht mehr erlebt. Als er sich von ihr verabschiedete, entschuldigte er sich dafür, daß er so langweilig und überspannt gewesen war, aber sie erwiderte, es sei faszinierend gewesen. Und diese Antwort kam so frisch, so spontan, so strahlend, daß er auf dem Heimweg eine Abzweigung verpaßte und einen Umweg von mehreren Kilometern machte.
Er konnte es gar nicht fassen, daß er diesem Mädchen schon hundertmal begegnet war, ohne auch nur zu ahnen, was für ein Potential in ihr steckte, wie aufgeschlossen sie war und wie sehr sie sich für Literatur interessierte. Was für ein Nebel hatte sein Hirn bloß wieder eingehüllt?
Natürlich war sie immer nur vorbeigehuscht und sogleich in Lisas Zimmer verschwunden, aber wer sonst hatte dieses Privileg? War es möglich, daß er in seinem eigenen Haus so gleichgültig, so blind, so unachtsam gewesen war? Daß er so wenig Scharfblick besessen hatte? War das nicht ein Vergehen an Lisas Gedenken, an ihrem Herzen und an ihrer Intelligenz – wie hatte er nur an der rechten Wahl ihrer Freunde zweifeln können?
Während er sich noch unerbittlich weitere Vorwürfe machte – ohne daß diese jedoch die süße Euphorie beeinträchtigten, in die ihn Gaby Gurlitch versetzt hatte –, sah er durch die Hecke Georges Croze, der auf dem Bauch durch seinen Garten kroch und mit einem Satz ins Haus sprang.
Objektiv gesehen hatte er nicht mehr die Kraft, einen Roman zu schreiben. Ab und zu überkam ihn zwar noch die Lust dazu, dann schoß ihm eine unsinnige Hoffnung wie ein sprühender Funke durch den Kopf, und die Lust explodierte buchstäblich in seiner Brust, aber er wußte, daß er nicht mehr die Kraft dazu hatte – so wie ihm auch die Kraft dazu fehlte, seine eigene Frau zu vögeln, wenn ihm das mal in den Sinn kam –, denn er war zu erschöpft, zu ausgelaugt – er hatte sich zwar seit mindestens zehn Jahren keinen Cocktail aus Gin, Subutex und Tranxilium mehr gemixt, aber trotzdem ließ die Hochform noch immer auf sich warten.
Na gut. Die alten Wunden wieder aufzureißen nützte nichts. Sich zu beklagen nützte nichts. Reue nützte nichts. Eine Nachtschwalbe flatterte im Garten der Crozes auf, flog mit einem langen krächzenden Krruit in abgehackten Bahnen durch die fahle Nacht. Im Inneren des Hauses war Georges Croze zu erkennen, der in dem nur schwach beleuchteten Wohnzimmer, dessen Spiegel verschleiert waren, mit einem Handy am Ohr auf und ab ging.
Richard hatte so viel für den Film und fürs Fernsehen geschrieben, daß er sich fragte, ob die Drogen allein an allem schuld waren. Was hatte wirklich die Anmut verjagt, seine Kräfte erschöpft, sein Gehirn erweicht, seinen Willen zerstört, ihm das einzige Talent, das er besaß, entrissen? Fällt ein Mensch, der sein Leistungsvermögen zu lange unterfordert hat, einer nicht rückgängig zu machenden Regression zum Opfer?
Während er sich ein weiteres Glas Wein einschenkte, schwor er sich, daß er einen erneuten Versuch machen würde, sobald er die Zeit dazu fand. Er wollte Gewißheit haben. Zwei oder drei Seiten schreiben, um zu sehen, was dabei herauskam. Weder für den Film noch fürs Fernsehen, sondern
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