Die Frühreifen (German Edition)
hatte tatsächlich eine wilde Wut geflackert, aber dann geschah doch nichts. Richard verzichtete darauf.
Georges Croze war der Ansicht, daß Evy eine Abreibung verdiente – eine körperliche Züchtigung –, und Judith Beverini meinte, er solle einen Psychiater aufsuchen. Statt dessen unternahm Richard eine Spazierfahrt mit ihm. Er fuhr mit ihm in die Berge, über die Kammstraße. Die Sonne ging gerade auf. Richard holte seinen Porsche aus der Garage und erklärte seinem Sohn: »Schnall dich an. Oder auch nicht, wie du willst. Auf jeden Fall habe ich vor, dir eine Antwort auf dein Schweigen zu geben. Ich will den ganzen Mißmut und die ganze Wut loswerden, die du in mir hervorrufst und die mich halb ersticken. Du wirst sehen, wie sich das ausnimmt.«
Später, als die Demonstration vorbei war, die auf dem menschenleeren Rastplatz La Roche Topaze mit einem ohrenbetäubenden Quietschen von Bremsen endete, das meilenweit zu hören war, durch die Wälder schallte und die Vögel und alles, was rannte, kroch, von Ast zu Ast sprang oder noch schlief, in Angst und Schrecken versetzte, kämpfte Evy eine ganze Weile gegen den Brechreiz und gegen die eisige Versteifung in seinem Nacken an, während Richard sich den Schweiß von der Stirn tupfte und seine Sonnenbrille putzte, indem er auf sie hauchte.
»Manchmal sind sie wirklich gefährlich«, sagte Andreas angewidert, nachdem Evy ihm die Sache erzählt hatte. »Völlig unvorhersehbar.«
Die relative Unbekümmertheit, die Andreas angesichts seines Zustands an den Tag legte, ging auf ein neues Schmerzmittel zurück, dessen Dosis er verdreifachte – oder das er mit einer Tablette Ritalin verband, um einen Angel-Dust-Effekt zu erzielen. Manchmal war er etwas durcheinander oder aufgeregt von dem Amphetamin, aber mehr auch nicht.
Evy beobachtete ihn mit leicht zusammengeschnürter Kehle, während sein Freund in der Laube, die Dany fertiggestellt hatte, fieberhaft seine Taschen durchwühlte und man hörte, wie Caroline vorschlug, eine Orangeade zu bringen, und Brigitte die Blumen und ihre nackten Füße begoß.
Die Hälfte der Schüler von Brillantmont verbrachte ihre Herbstferien auf den Seychellen oder auf dem Land, und die andere Hälfte veranstaltete Feste oder ähnliches, Hauptsache, alle hatten ihren Spaß. Im Verlauf eines solchen Abends, an dem mal wieder eine neue Art von Dope eingetroffen war – Evy hatte mir gesagt, daß an jenem Abend rätselhafte blaßblaue Pillen im Stil von Golden Eagle, die mit einem Schluck GHB eingenommen wurden, im Umlauf waren –, war Lisa völlig ausgerastet.
Was nicht heißen soll, daß ihre Dreiecksbeziehung in den letzten zwei Monaten mit Patrick und Gaby völlig harmonisch oder ein Paradebeispiel für vernünftiges Verhalten gewesen sei – nein, es steckte schon der Wurm drin.
Na ja, aber was sollte man sonst schon anfangen?
Diesmal ließ die Kälte jedenfalls auf sich warten, man konnte noch baden, sich im Sand und in den Tannennadeln wälzen und sich im Schatten der hohen Bäume von den Anstrengungen des Vorabends erholen.
Im großen und ganzen schienen alle zufrieden zu sein. Allen schien bewußt zu sein, wie herrlich die Nachsaison und wie mild das Wetter in diesem Teil des Landes war. Abends blieben sie so lange wie möglich im Freien und ließen sich träge von der Abenddämmerung einhüllen, während sie etwas tranken und sich über den Lauf der Welt ereiferten. Die Amerikaner dies und die Chinesen das. Der Preis des Erdöls dies und der Treibhauseffekt das. Die Technomusik dies und Aids das.
Sexuell gesehen begann es prickelnd zu werden, und die hohe Anzahl der Geschlechtsakte und Liebesspiele aller Art in dieser Region war der beste Beweis dafür. Jung und alt, Tier und Mensch, Männer und Frauen, alle schienen nach größerer Lust zu streben, wollten mehr bekommen, von diesem Übermaß an Licht profitieren, der in unseren Regionen ziemlich ungewöhnlich ist, kurz gesagt, alle schienen an dem Gewinn teilhaben zu wollen.
Manchmal waren die Winter so lang, so sterbenslangweilig, so aufreibend, so beschissen. Schwierig, den Einfluß einer Durchschnittstemperatur von achtundzwanzig Grad im Oktober – inmitten der Farben und Düfte des Herbsts – auf normale Geister exakt zu bestimmen.
Nehmen wir mal Marlène Aramentis, eine sittsame Frau ohne jede Extravaganz. Welcher böse Geist veranlaßte sie etwa, um Evy herumzuscharwenzeln, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, seine Hände zu berühren, seine Arme zu
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