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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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kneten, ihn unschuldig mit den Brustwarzen zu streifen und ihn zu bitten, sie mit Sonnenöl einzureiben?
    Nehmen wir Alexandra Storer. Sie erholte sich nur mühsam vom Selbstmord ihres Sohns, unterhielt sich aber zugleich mit Richard, ohne sich die Mühe zu machen, ein Höschen anzuziehen. War das nur, um zu zeigen, wie nonkonformistisch sie war?
    Nehmen wir Dany Clarence, der durch die Wälder streifte, nachts dort spazierenging und der allein in einer Hütte mitten in der Heide lebte.
    Nehmen wir all die Männer, die am Spätnachmittag ihre Krawatte lockerten und allmählich ihre Konzentration verloren, wenn das Unglück es wollte, daß sie das Fenster öffneten und dadurch das Gift hereinließen, das in der zuckersüßen Luft gegärt hatte.
    Nehmen wir all die Frauen, die auf sie warteten. Eine ansehnliche Menge mit feuchtwarmer Haut. Manchmal wurden Fächer verteilt. Eines Abends hatte ein Typ einer großen Plattenfirma ein in den USA entwickeltes System eingeschaltet, das das Wasser seines Swimmingpools abkühlte, und alle waren begeistert. In der Stadt verbreitete sich das Gerücht, daß auf dem Hügel heiße Feste gefeiert wurden, aber was einem aus den Swingerclubs zu Ohren kam, den Clubs, in denen sich Klempner, Kassiererinnen, Friseusen, Elektriker, Briefträger und weiß Gott wer trafen, bewies, daß es keinen großen Unterschied zwischen den verschiedenen Schichten gab. Es war eine allgemeine Aufwallung. Bis hin zum Gras, das grüner war. Bis zu den Klängen, die reiner waren. Bis zu den Börsenkursen, die sich einer unverschämten Gesundheit erfreuten. Bis zum Saft in den Bäumen, der sich weigerte, aus den Ästen zurückzufließen. Nur Dinge dieses Schlages.
    An jenem Morgen räkelte sich Anaïs am Ufer des Sees wie ein Seehund auf dem kleinen Strand – drei Meter breit und fünfzig Meter lang, angelegt von der Stadt, die den Ausschank betrieb und den Bootsverleih organisierte –, während die ersten Sonnenstrahlen auf sie fielen. Selbstverständlich schlotterte sie vor Kälte. Aber es gab keine andere Möglichkeit, der Schmach zu entgehen, keine andere Möglichkeit, allein zu sein, als im Morgengrauen einzutreffen.
    Was immer man auch vermuten mochte, Anaïs entging diesem allgemeinen Beben ebensowenig wie irgendeine von diesen kleinen Nutten, die auf die von ihrem Vater geleitete Schule gingen. Sie begann zwar ihren Lebensweg mit einem Handikap von etwa vierzig Kilo, aber sie spürte im Inneren ihres Körpers das gleiche Kribbeln wie die anderen.
    Und so schlotterte sie, obwohl sie sich abgetrocknet hatte, schlotterte unablässig. Tränen rannen ihr über die Wangen. Und sie stöhnte. Ein finsterer grauer Ton ging traurig über ihre Lippen, während sie grimmig auf die Oberfläche des Sees starrte, auf der nur eine dunkle Spiegelung zu sehen war, solange die Sonne noch nicht höher am Himmel stand.
    Sie brauchte keine schriftliche Benachrichtigung, um sich darüber klarzuwerden, daß ihr Dasein beendet war. Sie brauchte keine Hellseherin aufzusuchen, um herauszufinden, daß sie Lisa nicht ein zweites Mal in ihrem Leben begegnen würde. Es kam oft vor, daß sie im Anschluß an diese entsetzliche Feststellung ein, zwei Seufzer von sich gab. Kleine Säugetiere unterbrachen ihr Tun und stellten sich auf die Hinterbeine, um ihr zuzuhören.
    Sie wußte auch, daß sie völlig verrückt war. Daß sie in einer Zwangsjacke enden würde, wenn sie so weitermachte, aber sie sah keinen Grund, keinen einzigen triftigen Grund, um mit den seltsamen Reaktionen aufzuhören, die sie hatte, mit diesem unsinnigen Verhalten. Aber weder sie noch sonst jemand war imstande, ihr einen Grund anzugeben.
    Ihr blieb einfach so wenig von Lisa übrig. Mit jedem Tag verlor sie sie ein wenig mehr – die Zeit zerstückelte sie. Sie blinzelte, als die Sonne über die Berggipfel stieg, und trocknete ihre Tränen mit beiden Fäusten. All diese Traurigkeit, die sich in Schniefen und Rotz verwandelte, das war ein Jammer, der reinste Jammer, sagte sie sich.
    In gewisser Weise glaubte sie an die Homöopathie, an das Erinnerungsvermögen des Wassers. Sie dachte daran, daß es Milliarden von Molekülen in diesem See gab, die mit Lisas Körper in Kontakt gewesen waren, und man konnte absehen, worauf das hinauslief, allein daran ließ sich ermessen, wie verrückt sie war. Es schwebte fast ein Hauch von Sex darüber – wie dieser leichte Dunst, den sie am frühen Morgen entdeckte, dieser leichte Schleier an der Oberfläche des Wassers, wenn

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