Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
Vom Netzwerk:
glitzerten.
    Andreas hatte zunächst ihre Hilfe schroff abgelehnt, aber er war ziemlich bald der Länge nach auf einen Teppich aus feuchtem Laub hingeschlagen und mußte es daher wohl oder übel hinnehmen, den Rest des Weges bis zur Straße auf Evys Schultern zurückzulegen.
    Sobald sie außer Sichtweite waren, trennte er sich abrupt von seinem Roß. »Mach dir das nicht zur Angewohnheit«, knurrte er und schob Evy mit dem ausgesteckten Zeigefinger zurück. »Mach dir das bloß nicht zur Angewohnheit, das ist völlig grotesk. Deine Schuldgefühle kannst du dir sparen, glaub mir.«
    Die Regengüsse hatten der Vegetation wieder neue Kraft verliehen. Die Gerüche des Waldes waren intensiv. Jeden Morgen wurde das Laub von Maschinen gefegt, aufgesaugt, zerkleinert und zusammengepreßt, aber die Zweige waren noch immer voller glänzender Blätter. Die Bewohner des Hügels freuten sich darüber, daß sie so schöne Bäume und so prächtige Gärten hatten.
    Es wurde schon dunkel. Aber im letzten Augenblick bekam Michèle Schiß.
    Sie meinte, daß die Delacostas überraschend heimkehren könnten oder daß der Hausmeister am Samstagabend vielleicht ausnahmsweise mal keine Sexparty in der Turnhalle veranstaltete – die ziemlich dicken, rutschfesten Matten aus blauem Schaumgummi ließen sich leicht mit einem Schlauch reinigen.
    »Hör zu, nun erzähl doch nicht so einen Scheiß«, fuhr Andreas sie an. »Niemand zwingt dich mitzukommen.«
    Stumm ragte das Brillantmont-Gymnasium in einer ruhigen, ansteigenden, ein wenig kahlen Straße im Norden der Stadt in den Himmel auf, es war ein Gebäude aus dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, das ebenso wie die Nachbarhäuser mit all ihren Erkern oder Türmchen abends finster und uralt wirkte.
    »Meinst du, es reicht nicht, daß du schon nicht vögeln willst«, sagte er zu ihr, »müssen wir dich auch noch wie einen Klotz am Bein hinter uns herziehen? Verdammte Scheiße, das geht aber wirklich zu weit.«
    Sie machte mit dem Mittelfinger eine obszöne Geste, während er seufzte. Sie standen vor einem breiten, mit Ornamenten überladenen Gittertor, das von hohen schwarzen, bedrohlich wirkenden Pfeilspitzen überragt wurde. Abgesehen von dem Licht, das in der Turnhalle brannte, waren die Gebäude finster, alle Räume waren in Dunkelheit getaucht.
    »Keine Angst, Freunde, keep cool «, kicherte Dany Clarence. »Schließlich raubt ihr keine Bank aus.«
    Er stellte den Wagen ein Stück weiter entfernt ab. All das amüsierte ihn.
    Am Tag zuvor hatte er ihnen alte Handschuhe, eine Taschenlampe und zwei Kuhfüße besorgt. Er übernahm den Transport. Er stand Schmiere. Er nahm zwanzig Prozent der erbeuteten Summe.
    Nur ein einfacher Diebstahl, natürlich. Aber Dany Clarence war einer der geizigsten Typen meilenweit. Es ging im übrigen das Gerücht um, er sei reich – aber gab es überhaupt arme Dealer? – und habe seine Ersparnisse am Fuß irgendeiner Tanne, die er im Auge behielt, im Torf vergraben.
    »Huuhuuhuuhuu… huu’huu’huu’huu…« Eine Eule ließ ihr tiefes Tremolo erklingen, während sie über das Gymnasium flog, dessen großer Innenhof mit seinen alten Pflastersteinen unter der hellen Mondsichel wie eine Eisbahn glänzte.
    Sie warteten, bis eine Wolke kam.
    Dann glitten sie durch eine kleine Tür im Gittertor, die Dany ihnen zuvorkommenderweise mit einem Dietrich geöffnet hatte, ehe er zu seinem Auto zurückging und dabei La Isla Bonita pfiff.
    »Wenn meine Mutter das erfährt, bringt sie mich um«, erklärte Michèle.
    Sie schwankten durch den Schatten der Arkaden, um den Innenhof zu umgehen – Andreas humpelte, so schnell er konnte, auf seinen Beinen. Dann blieben sie stehen, um zu lauschen. Alle drei spitzten die Ohren. Aber es war nur das Gluckern des Springbrunnens zu hören.
    Die Wohnung der Delacostas lag im ersten Stock eines Nebengebäudes, in dem keinerlei Lebenszeichen zu erkennen waren, wie Andreas vorausgesagt hatte. Ihre Garage war leer. Bei dem Hausmeister brannte kein Licht. »Weil er in der Turnhalle ist«, sagte Andreas spöttisch. »Der Hausmeister ist in der Turnhalle, ganz klar. Darum dieser Lichtstrahl, den man da hinten unter der Tür sieht, genau wie ich gesagt habe. Da ist er, der blöde Hausmeister, wie jeden Samstag in seinem beknackten Leben, samstags und nur dann.«
    Unterdessen hatte Evy schon die Tür zum Krankenzimmer aufgebrochen, und dann schlichen sie lautlos hinein, während die Wolken wie unermüdliche junge Hunde mit dem Mond spielten

Weitere Kostenlose Bücher