Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
Vom Netzwerk:
Irgendwie mußte man damit ja klarkommen, sagte er sich.
    Der Regen trocknete schon auf den großen Fensterwänden, verdunstete in glitzernden Girlanden, in leuchtenden Streifen aus durchsichtigen Perlen. Aufgrund der Smiths und Morrisseys einwandfreier Stimme fühlten sich Richard und Alexandra einander sehr nah. Ein äußerst angenehmer Augenblick des Einklangs. Die Musik drang in sie ein, glitt wie eine Schlange um eine Achse in sie, mit dem Kopf zuerst, durchbohrte ihr Herz, und ein seltsames Lächeln ließ ihre Gesichter aufleuchten, ein inniges Lächeln des Einverständnisses lag auf ihren Lippen. Die ersten Alben von Lou Reed hatten die gleiche Wirkung auf sie.
    Fast hätten sie darüber Anaïs und ihre verdammten Fotos vergessen. Sie begannen, sich in den Hüften zu wiegen, den Kopf im Takt hin und her zu bewegen. Mußten sich Eltern wirklich um alles kümmern, was diese Blagen anstellten? War das tatsächlich nötig? Mußten sie unbedingt wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückkehren, um sich den Bericht ihrer Abenteuer, ihrer verworrenen Beziehungen, ihrer grausamen Enttäuschungen anzuhören?
    »Evy hat sie in Patricks Sachen gefunden«, verkündete Anaïs mit dumpfer Stimme und ließ ein Dutzend Fotos auf den Tisch fallen. »Ich glaube nicht, daß Ihnen die Situation in allen Einzelheiten bekannt ist. Daher tut es mir leid, wenn Sie das schockiert.«
    Richard nahm die Fotos grinsend in die Hand und erklärte, noch ehe er einen Blick auf sie warf: »Und warum sollte uns das schockieren, Anaïs? Hat das was mit Scat zu tun?«
    Offensichtlich begriff sie den Scherz nicht – Richard war sowieso der Ansicht, daß die Jugendlichen im allgemeinen nicht sehr witzig waren –, und eine eisige Wut schien in ihr zu kochen. Das arme Mädchen. Er schickte sich also an, diese Fotos zu betrachten, während Alexandra zu ihm herüberkam und sich bei ihm einhakte.
    Es handelte sich um Aufnahmen von Lisa und Gaby in einem Bett. Die beiden waren nackt. Sie sahen aus, als hätten sie gerade einen Tausendmeterlauf gemacht, oder vielleicht funktionierte die Klimaanlage des Zimmers nicht, aber das war das einzige Verdächtige an der Sache, aus dem sich mit ein wenig Phantasie erschließen ließ, was die beiden gerade gemacht hatten und warum sie so schweißgebadet waren. Ansonsten mußte man schon etwas abartig veranlagt oder durch die fieberhafte Lektüre der Heiligen Schrift verdorben worden sein, um in diesen Fotos das Böse zu sehen, denn die Körper waren nicht ineinander verschränkt, die Posen nicht aufreizend, das Fleisch nicht zur Schau gestellt wie sonst fast überall, selbst auf den Mauern in der Stadt oder an den Bushaltestellen.
    Aus den Augenwinkeln beobachtete Anaïs ihre Reaktion, doch sie ließ auf sich warten.
    Der Rasen draußen glitzerte jetzt wie eine Schmuckschatulle.
    »Unglaublich, was Lisa für eine tolle Figur hatte«, seufzte Alexandra schließlich.
    Richard nickte.
    Plötzlich überkamen Anaïs Zweifel.
    »Es ist bestimmt nicht witzig, so was zu entdecken«, erklärte sie. »Ich meine, den Beweis in den Händen zu halten.«
    Richard holte tief Atem.
    »Ich hoffe, sie hat Zeit genug gehabt, um ihren kurzen Aufenthalt unter den Lebenden voll und ganz zu genießen«, seufzte er. »Und Patrick natürlich genauso. Das wünsche ich ihnen von ganzem Herzen.«
    Anaïs war aufgestanden und trat von einem Fuß auf den anderen, die Fäuste in die Bauchtaschen gesteckt.
    »Wie hätte sie das bloß genießen können?« knurrte sie leise.
    »Was sagst du da?« fragte Richard. »Sprich lauter, ich habe es nicht verstanden.«
    »Ich habe gesagt, wie hätte sie das bloß genießen können ? Deshalb bin ich sauer auf ihn. Deshalb bin ich explodiert. Mich macht das krank, wenn ich das sehe.«
    »Wovon redet sie überhaupt?« sagte Alexandra in leicht protestierendem Ton.
    »Hören Sie zu, stört Sie das denn nicht, daß Mädchen miteinander schlafen? Mehr haben Sie nicht dazu zu sagen?«
    Richard betrachtete sie und kratzte sich am Kinn.
    »Hm«, sagte er, »anscheinend wird die Sache komplizierter.«
    Als Richard nach Hause zurückkehrte, wurde es schon allmählich dunkel. Hinter den großen Gärten, hinter einem Meer aus gezähmter Vegetation, leuchteten hier und dort durch die Bäume bereits in den Fenstern, in den Eingängen, in den Zimmern die ersten Lichter auf, während sich der Himmel rötlich färbte. Ein kräftiger Geruch nach feuchter Erde lag in der Luft, und die Baumstämme waren schwarz und

Weitere Kostenlose Bücher