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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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glänzten.
    Richard ging in aller Ruhe zu Fuß nach Hause zurück, die Hände in den Taschen, die Schultern hochgezogen, die Nase im Wind. Er wußte zwar, wie sehr Anaïs an Lisa gehangen hatte, wußte, daß es sich um eine totale, ziemlich elementare, ja fast lächerliche Anhänglichkeit gehandelt hatte, doch deren ganze Tragweite war ihm nie zuvor so klar geworden. Anaïs Delacosta gehörte im Grunde ins Irrenhaus, das lag auf der Hand, das ließ sich wirklich nicht leugnen, sagte er sich.
    Auch Alexandra war zutiefst erschrocken über sie gewesen. Sie hatte ihr nachgeblickt und mit resignierter Miene zu Richard gesagt: »Diese Generation kann einem richtig Angst machen, nicht wahr? Sie sind so… altmodisch. Sie sind manchmal so altmodisch, daß sie einem angst machen.«
    »Diese Mischung aus Naivität und Brutalität, hast du das gesehen? Darüber könnte man ein ganzes Buch schreiben. Und dann diese Prüderie. Dieses ganze Theater, das sie um die Sache gemacht hat. Was haben wir uns bloß für einen Scheiß anhören müssen! Zuerst habe ich gedacht, es sei ein Witz. Ich habe mir gesagt, das ist doch wohl nicht möglich, das kann doch nur ein Scherz sein . Aber nein, da habe ich mich geirrt. Sie meinte das tatsächlich ernst.«
    »Dabei sind es unsere Kinder. Wir müßten eigentlich fähig sein, mit ihnen zu kommunizieren, findest du nicht? Das sind doch unsere Kinder. Oder irre ich mich da?«
    Dann schenkte Alexandra achselzuckend zwei Martini-Gin ein. Sie sprachen über Laure und den Film, in dem sie mitwirkte, über den Besuch von Richards Eltern, und nebenbei sagte Alexandra, daß sie sich in letzter Zeit so einsam fühle, und wenn Richard Lust habe, könne er sie jederzeit besuchen und sogar die ganze Nacht bleiben, wenn er wolle. Er erwiderte schließlich darauf, daß er auf die Einladung zurückkommen werde.
    »Ich kann auch nichts dafür, daß mein Sohn mit deiner Tochter gevögelt hat, weißt du.«
    »Alexandra, erzähl keinen Scheiß, was soll das?«
    »Oh, entschuldige, bitte vergiß es. Es tut mir leid, daß ich mich so vulgär ausgedrückt habe.«
    »Ist schon gut. Aber wie schon gesagt, mich stört das überhaupt nicht. Mich hat es viel stärker erschüttert, wenn jemand sie bloß angestarrt hat, als sie noch ein Kind war. Das war richtig hart. Das machte mir etwas aus. Aber das ist schon lange her. Damals war Lisa noch ganz anders, verstehst du?«
    Trotz allem tat es gut, über Lisa zu sprechen. Und natürlich auch über Patrick. Alexandra bereute es nicht, daß sie ihn ins Internat gesteckt hatte, denn dadurch, erklärte sie, hatten sie sich wenigstens nicht bis zum letzten Moment in die Wolle gekriegt, sondern etwas Distanz zwischen sich geschaffen, die eine gewisse Ruhe mit sich gebracht hatte, so daß ihr letzter Eindruck nicht ganz so schrecklich war.
    »Und dabei bin ich mir sicher, daß er, wenn er jetzt hier vor mir stände, mich nach einer Minute völlig verrückt machen würde«, fügte sie lächelnd hinzu. »Sag mal, im Grunde sind wir alle Ungeheuer, oder etwa nicht?«
    Richard hielt ihr wieder sein Glas hin. Er fragte sich laut, ob sie nicht Gaby Gurlitch warnen sollten, wie feindlich Anaïs ihr gesinnt war, aber Alexandra gab ihm mit Recht zu bedenken, daß sie nicht die Aufgabe hatten, sich in diesen Konflikt einzumischen – vor allem, wenn dieser ganz offensichtlich nicht neu war.
    Während er nach Hause zurückkehrte, dachte er nicht an Patrick und Lisa, sondern an die beiden Mädchen, dachte daran, was Lisa und Gaby gemeinsam getrieben hatten, das war doch immerhin recht erstaunlich. Diesen zügellosen Sex, dem sie sich zu dritt hingegeben hatten – und den die romantisch veranlagte Anaïs zum Kotzen fand. Er versuchte, sich Lisa vorzustellen, sie sich vor Augen zu führen, doch es gelang ihm nicht, ein deutliches Bild von ihr zu bekommen. Hier und dort fielen noch ein paar Tropfen von den Blättern, durch die man flüchtige Blitze aufleuchten sah. Es war furchtbar, spüren zu müssen, wie Lisa allmählich verblaßte, und sich vorzustellen, daß sie vielleicht eines Tages ganz aus seinem Gedächtnis verschwinden würde. Das war unendlich traurig. Aber daß er nicht geahnt hatte, welche Art von Beziehung seine Tochter mit Gaby Gurlitch unterhalten hatte, das war richtig jämmerlich, richtig erschütternd.
    Dieser Gedanke nahm ihm die letzte Kraft für den Rest des Abends.
    Dennoch ging er auf seinen Vater zu, der am anderen Ende des Gartens zur Begrüßung sein Glas hob.
    Sie

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