Die Frühreifen (German Edition)
Jasminessenz, Jasminparfüm, Jasminseifen in den Schubladen der Kommode oder zwischen ihren unförmigen Kleidungsstücken auf den Regalen in ihrem Schrank.
Sie fanden es angenehm, in diesem Zimmer herumzuwühlen, sie fanden es witzig, ja gerecht, daß diese alte Ziege, die sie derart nervte, ihnen ständig auf der Pelle hockte und die Andreas als Hauptverantwortliche für seinen Unfall ansah, denn eigentlich hätte sie ja an seiner Stelle vom Baum stürzen müssen – stimmt das etwa nicht? –, also daß sie jetzt ihrerseits erfahren mußte, wie es war, wenn jemand seine Nase in ihre Dinge steckte.
Ihre Schlüpfer waren absolute Spitze. Die drei hielten sich den Bauch vor Lachen. Vom Fenster aus konnten sie in die Turnhalle, auf den menschenleeren beleuchteten Basketballplatz und auf die menschenleere Tribüne blicken – die Sexparty fand darunter statt –, und dieser Anblick erweckte einen Eindruck der Verlassenheit, der ziemlich verwirrend, ziemlich hypnotisch war, um nicht mehr zu sagen. Man hörte das Quietschen der alten Wetterfahne – eines Posaunenengels –, das Rascheln der alten Linde neben der Garage und das Klappern eines Fensterladens vor der Bibliothek.
Alles verlief gut, bis sie Anaïs’ Vorratslager entdeckten.
Ohne eine Sekunde zu zögern begannen sie zu rauchen und untersuchten dabei weiterhin Anaïs’ persönliche Sachen in jenem durchdringenden Jasmingeruch, der noch stärker geworden war, seit sie alles angerührt hatten. Und plötzlich drängte sich ihnen Lisas Gegenwart auf, sie war überall zu spüren. Sie stießen zum Beispiel auf ein Foto ihrer Schulklasse. Oder auf Konzertkarten, die die Dicke gewissenhaft aufbewahrt hatte. Auf die Nachrichten, die Lisa auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte und die Anaïs zusammengeschnitten und aneinandergereiht hatte. Auf Zettel, auf denen Lisa ein paar Zeilen gekritzelt und die Anaïs in Plastikhüllen aufbewahrte – zum Beispiel eine Verabredung, eine Telefonnummer, ein Code für eine Haustür oder ähnliches, völlig uninteressante, lächerliche Dinge. Evy schüttelte den Kopf und brachte damit zum Ausdruck, daß Anaïs nicht alle Tassen im Schrank hatte, aber er war unfähig, einen Ton hervorzubringen.
Andreas streckte die Hand aus und legte sie Evy auf die Schulter. Unter der Zimmerdecke hing eine dicke weißliche Rauchwolke. Michèle biß sich auf die Lippen. Sie hatte Lisa nicht gerade ins Herz geschlossen – sie hatte nicht vergessen, daß diese eines Tages bei den beiden Jungen über sie gelästert hatte –, aber auch sie spürte, wie sie eine starke, ansteckende Rührung überkam, die sie bald alle überwältigen sollte.
Manchmal, wenn die Ereignisse oder die Umstände es möglich machten, war die Sinnestäuschung so stark, daß sie Evy die Kehle zuschnürte und er nicht mehr schlucken konnte. Und manchmal – Michèle war nie dabeigewesen, aber Andreas hatte es ihr erzählt – brach er sogar in hemmungsloses Schluchzen aus und war von einer Traurigkeit erfüllt, bei deren Anblick man eine Gänsehaut bekam.
Andreas drückte seine Stirn gegen Evys und öffnete dann das Fenster. Doch Evy war nicht der einzige, der frische Luft brauchte. Der beißende Geruch der White Widow vermischte sich mit dem Jasminduft. Das erinnerte sie an manche Abende, an denen Lisa ihnen erlaubt hatte, einen Joint mit ihr und ihren Freunden zu rauchen – ehe sie dem Beispiel ihrer Eltern folgte. Das rief ein paar schöne Augenblicke wach, erinnerte an die Verehrung, die Evy seiner Schwester entgegengebracht hatte – und der Gedanke, daß er in irgendeiner Weise an ihrem Tod schuld sein könne, kam Michèle daher völlig grotesk, völlig unbegründet vor.
Auch wenn Evy schöner und rätselhafter war als Andreas und etwas sanfter mit ihr umging, zog sie Andreas vor. Doch sie mochte auch Evy wirklich gern und hätte zum Beispiel nichts dagegen gehabt, wenn er zu ihr gegangen wäre, den Kopf auf ihren Schoß gelegt und eine Weile so ruhig verharrt hätte, bis er sich besser fühlte. Das hätte Evy bestimmt am meisten gebraucht, dachte sie, aber das war natürlich nicht möglich.
Sie durften nicht in diesem Zimmer Wurzeln schlagen. Sie durften sich hier nicht häuslich niederlassen und aus den Augen verlieren, daß sie gewisse Regeln verletzten.
Michèle kam zu ihnen auf den Balkon. Sie waren alle drei total zugedröhnt, das hatte nicht lange auf sich warten lassen. Sie taumelten. Aber was für ein Himmel, was für ein märchenhaftes Firmament,
Weitere Kostenlose Bücher