Die Frühreifen (German Edition)
vor dem hohe Wolkentürme in raschem Tempo dem Saum der Nacht entgegenglitten. Der laue Wind heulte im Hof, fegte pfeifend um die Gebäude, während der Fensterladen der Bibliothek und die Wetterfahne schön im Takt knarrten und klapperten. Und plötzlich besänftigte er sich und legte sich dann völlig – und ein paar Blätter wirbelten noch ein letztes Mal lautlos durch die Luft.
Instinktiv wichen sie zurück, als ein Rechteck aus Licht im Türrahmen der Turnhalle aufleuchtete und ein Paar darin auftauchte, das schallend lachte. Die Frau trug einen Büstenhalter. Der Mann hielt eine Gaslampe in der ausgestreckten Hand, und sein Pimmel schaukelte wie ein kleines enthäutetes Tier zwischen seinen Beinen hin und her. Total besoffen. Sie lehnten sich neben der Glyzinie, die die Regenrinne überwuchert hatte und in Ranken unters Vordach geklettert war, mit dem Rücken an die Wand, und man begriff sehr schnell, daß sie eine Wette abgeschlossen hatten.
Ohne Vorwarnung spritzte ein doppelter, dampfender Urinstrahl im Halbkreis durch die Luft und prasselte in den Hof, wobei das Paar auf widerwärtige Weise rülpste und wiehernd lachte.
Schwer zu sagen, wer auf diesem Gebiet der Stärkere der beiden war.
Auf jeden Fall drehte sich der Mann schließlich zur Seite und begann der Frau aufs Bein zu pissen, während diese die Augen hob und ihn erstaunt ansah.
»Aber Gilbert, na hör mal, Gilbert, also Gilbert, was machst du da?« stammelte sie glucksend.
Daraufhin wandte auch sie sich ihm zu und zahlte es ihm mit gleicher Münze heim. Beide quiekten wie Ferkel, die zum Schlachthof gebracht werden, klammerten sich aneinander und wären um ein Haar gemeinsam zu Boden gestürzt – was ihre Freude verdoppelte, und dann versuchten sie, mit gebeugten Knien im Stehen zu vögeln, knurrend und mit bebenden Nüstern, wobei sie sich an die Wand lehnten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ihre Beine glänzten, als trügen sie Nylonstrümpfe. Sie patschten in einer Urinpfütze mit bläulichen Rändern herum.
Die drei sahen dem Treiben aus Anaïs’ Zimmer mit weit aufgerissenen Augen zu, aber sie fanden diesen Anblick trotz allem ziemlich abscheulich. Sie hätten beim besten Willen nicht sagen können, warum, oder höchstens, daß es nicht der richtige Augenblick war.
Sie erinnerten sich nicht mehr, ob sie Anaïs’ Zimmer mit böser Absicht aufgebrochen hatten – ob sie zum Beispiel vorgehabt hatten, alles kurz und klein zu schlagen und die Wände mit unsinnigem Zeug zu bekritzeln. Sie teilten zwar Anaïs’ Vorrat untereinander auf, das war ja wohl das wenigste, doch ansonsten, was die Strafe anging, die Anaïs dafür verdiente, daß sie ihnen schon seit Ewigkeiten auf den Wecker ging, zeigten sie sich geradezu barmherzig. Mehr noch, sie räumten auf, stellten alles wieder an seinen gewohnten Platz. Ohne sich abzusprechen, legten sie die Seife wieder in die Schränke, die Reliquien in die Schubladen und warfen erneut einen Blick in den Hof, um zu sehen, ob der Weg frei war.
Sie brauchten unbedingt eine Luftveränderung, wenn sie nach all dem, was sie geraucht hatten, nicht bis zum Morgengrauen elendige Qualen ausstehen wollten. Aber sie mußten warten, bis die beiden Turteltäubchen sich aus dem Staub machten, bis sie fertig waren und die Kurve kratzten, auf allen vieren, fast kriechend, fast stammelnd, und inzwischen schien Evy es dort nicht mehr auszuhalten.
Er holte tief Atem, als habe ihn jemand gut zwei Minuten lang unter Wasser getaucht. Michèle fragte sich nicht mehr, was mit ihm los war. Machte sich auch keine Gedanken mehr über die Magenkrämpfe, die Andreas bekam, oder über die plötzlich auftretenden Ausschläge, unter denen sie selbst litt, seit ihre Mutter wieder geheiratet hatte. Sie war der Ansicht, daß man dem Himmel danken könne, daß es nicht schlimmer gekommen war.
Wie dem auch sei, sobald sich die Tür der Turnhalle wieder geschlossen hatte, stürzte Evy aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinab, ohne zu warten.
Er hatte das Gefühl, als stecke seine Brust in einem Schraubstock und als ließe sich in seinem Geist eine schwarze Leere nieder. Lisa hatte ihn einmal zum Spaß mit einem Strumpf halb erdrosselt, und dabei war er ohnmächtig geworden – er erinnerte sich noch, daß er kurz davor genauso einen Druck verspürt hatte, ehe alles dunkel wurde.
Er ging in dem Augenblick in die Garage der Delacostas, als Andreas oben auf dem Treppenabsatz auftauchte und Michèle leise fluchend
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