Die Frühreifen (German Edition)
erklären würde, wie er das angestellt hatte. Auf dieses Buch warteten schon sehr viele.
Inzwischen hatten sich Michèle und die beiden Jungen von ihren heftigen Gefühlen erholt und drehten sich einen weiteren Joint – als Belohnung für ein Unternehmen, das sie im großen und ganzen als gelungen betrachteten, auf jeden Fall als sehr aufregend und reich an starken Momenten.
Er gab Evy ein Zeichen, ihm zu folgen.
Der See war keine fünfhundert Meter entfernt, wenn man quer durch den Wald ging. Unterwegs holte Evy das Geld aus der Tasche, und Dany zählte die Scheine im Gehen – im Licht des Mondscheins, der durch das Laub drang, das jetzt nur noch leise raschelte und sich leicht kräuselte. Es war etwa zwei Uhr morgens. Die Stille war beruhigend. Der silberne Glanz des regungslosen Sees hinter dem Hochwald dagegen weniger.
»Willst du meine Meinung über Gaby Gurlitch hören?« fragte Dany, während sie zum Ufer hinabgingen und sich der Hütte und dem Bootshaus näherten. »Willst du wissen, was ich von ihr halte? Ich glaube, sie versteht etwas von der Sache. Meiner Ansicht nach sogar verdammt viel. Ich glaube, es prägt den Charakter, wenn man keine Eltern mehr hat. Aber all das geht mich natürlich nichts an. Das versteht sich von selbst. Also tun wir so, als hätte ich dir nichts gesagt.«
Er sprang aus dem Dickicht auf den Sandstrand, und Evy folgte ihm sogleich. Evy badete nicht in diesem See, das verstand sich von selbst, aber das war alles, weiter ging die Sache nicht. Andere hätten es vielleicht nicht ertragen, den Blick auf diesen See zu richten, Evy dagegen konnte sogar genau auf die Stelle starren, an der Lisa ertrunken war, das machte ihm nichts aus – das soll jedoch nicht heißen, er hätte nichts dabei empfunden und nicht die geheimnisvolle Macht dieses Ortes gespürt, die noch dadurch verstärkt wurde, daß er jetzt menschenleer war, ohne all diese Familien, die sich dort im Sand räkelten und mit stinkenden nackten Füßen herumliefen – gräßlich. Die heiligen Stätten blieben verborgen, sie waren der großen Masse für immer unzugänglich, sagte er sich, und das war gut so.
»Ich verlange nur eins«, fuhr Dany fort, »und zwar, daß ich mich nicht in eure Angelegenheiten einmischen muß. Ja, ich weiß, die Sache mit diesen beschißnen Fotos. Aber sonst wäre sie mir aufs Dach gestiegen. Alles, was Lisa betrifft, macht sie verrückt, diese arme Anaïs, und das wird nicht besser. Aber ich will nicht dafür büßen müssen, verstehst du? Ich will nicht, daß sie mir aufs Dach steigt.«
Sie blieben vor der Tür des Bootshauses stehen. Dany sah den Jungen fragend an und schien beruhigt zu sein. Anschließend ließ er den Blick lange schweifen und beugte sich wiederum beruhigt über das große Vorhängeschloß, das vor der Tür hing.
Im Sommer übernahm Dany diesen Job. Er kam nachmittags her und kümmerte sich um die Bootsvermietung, offiziell um seine etwas zu mageren Börseneinnahmen aufzubessern – eine kleine Kapitalanlage für Familienväter, wie er das seit einiger Zeit im Spott nannte – und um keinen Verdacht zu erregen, wenn er den ganzen Winter lang keinen Finger rührte.
Er kümmerte sich auch um die Instandhaltung der Boote. Ab und zu verbrachte er ganze Tage dort. Er führte ein paar Reparaturarbeiten aus, kalfaterte, lackierte, strich den Schuppen neu mit tannengrüner Farbe, entfernte die Kiefernnadeln, die die Dachrinnen verstopften.
Sehr bald war er auf die Idee gekommen, in diesem Schuppen die Ware zu verstecken, mit der er handelte, und dazu konnte er sich nur beglückwünschen.
In den drei Sommermonaten brauchte er nur die Bootsmiete zu kassieren und gegen die Versuchung anzukämpfen, in einem recht bequemen Campingsessel unter dem Vordach einzuschlummern. Wenn ein Gewitter aufzog, war er einer der wenigen, die im Trockenen blieben. Und abends hinderte ihn nichts daran, ein paar Würstchen über einem Holzfeuer zu grillen, während auf dem Parkplatz die Hölle los war, die Eltern ihre Autos aus engen Parklücken zu bugsieren versuchten und die Scheinwerfer auf dem Rückweg durch den Wald strichen.
Manchmal hatte er den Eindruck, als gehöre ihm der See. Die Dunkelheit brach an, und in einem Umkreis von mehreren Kilometern befand sich keine Menschenseele mehr. Um so besser, er zog die Einsamkeit vor. Er hüllte sich in einen Schlafsack, dessen Reißverschluß kaputt war, und lehnte sich mit dem Rücken an die Fassade, um die Dämmerung und ihr aufflammendes Licht
Weitere Kostenlose Bücher