Die fünf Leben der Daisy West
»Routineuntersuchung«. Zwar werden Augen, Ohren, Reflexe und das Herz geprüft, doch danach folgt noch eine vollständige neurologische Untersuchung sowie ein Gleichgewichts- und Koordinationstest. Gewebe- und Haarproben werden genommen und im Labor ausgewertet. Auch wenn man keinerlei Beschwerden im Hals hat, wird ein Streptokokken-Test durchgeführt. Hinzu kommt ein Ganzkörperscreening, bei dem jegliche Leberflecken und Muttermale notiert werden. Außerdem wird mein Ernährungstagebuch geprüft, das Körperfett gemessen und man muss einen anstrengenden Fitness-Test durchlaufen.
Nicht gerade eine durchschnittliche Standarduntersuchung.
Anschließend folgt der Gedächtnistest, den ich recht gern absolviere, weil er normalerweise in einem Wettbewerb zwischen Mason und mir endet, bei dem ich immer gewinne. Letztes Jahr haben wir eine Stunde darüber diskutiert, ob meine Schule in Palmdale, Florida, in der Connecticut Avenue lag oder in der Connecticut Street.
»Avenue«, behauptete ich.
»Das ist falsch«, meinte er.
»Ist es nicht.«
»Damals warst du erst fünf Jahre alt. Du kannst dich doch gar nicht daran erinnern.«
»Kann ich wohl. Die Bushaltestelle war an der Ecke Connecticut Avenue und First Street.«
»Wie kannst du dir so etwas merken?«
»Ich kann es einfach.«
In gewisser Hinsicht habe ich es mir seinetwegen gemerkt, aber das wollte ich ihm nicht sagen. Ich habe nämlich immer zu dem Schild hinaufgeschaut und mir gewünscht, in dem echten Connecticut zu sein anstatt nur in der Connecticut Avenue , so schrecklich litt ich darunter, mit dem Bus zur Schule zu fahren. Erst als ich eines Morgens heulend zusammenbrach, merkte Mason, wie sehr ich von dem Busunfall traumatisiert war.
Danach hat er mich immer zur Schule gefahren.
Auf den Gedächtnistest folgt ein psychologischer Test, bei dem ich mich immer ein wenig komisch fühle, weil er von dem Menschen durchgeführt wird, der gleichzeitig als mein Vater fungiert. Bislang haben wir es jedoch noch jedes Mal hinbekommen. Danach muss man sich einem IQ-Test unterziehen sowie altersangemessenen Prüfungen in Mathe, Naturwissenschaften, Sprachen und Leseverstehen.
Auch wenn die Tests anstrengend, ja brutal sind, ist mir dennoch bewusst, dass sie einen Nutzen für das Programm haben und man dadurch wertvolle Daten über die Revive-Kids erhält. Einen Teil hasse ich jedoch regelrecht: die Blutabnahme. Gewebeproben sind eine Sache – ein winziges Stück wird aus ohnehin betäubter Haut herausgeschnitten. Wenn dir jedoch fünfzehn Spritzen Blut auf einmal abgenommen werden, ist es, als wenn langsam das Leben aus dir herausgesaugt wird. Was mit einem Stich beginnt, endet mit völliger Benommenheit.
Die Blutabnahme ist der schlimmste Teil. Aber nicht nur deswegen treibt mich der Test an den Rand der Erschöpfung. Da ichmit zwei Agenten zusammenlebe und sozusagen ihre menschliche Laborratte bin, dauert der Test bei mir zwar nur einen Tag, während die anderen bis zu vier Tage lang getestet werden. Aber es gibt keinerlei Pausen für mich. Zwischen dem Psycho- und dem IQ-Test zum Beispiel habe ich keine Zeit, mein Gehirn aufzuladen.
Nachdem alles vorbei ist, unterschreibe ich todmüde und benommen mit meinem richtigen Namen, Daisy McDaniel, einen Eid, der mich zu lebenslangem Schweigen und Lügen verpflichtet. Anschließend, anstatt mich für eine Party zu stylen, wie jeder normale Teenager in meinem Alter um halb acht an einem Samstagabend, schlüpfe ich in meinen Schlafanzug und versuche wenigstens so lange wach zu bleiben, bis ich meine Zähne geputzt habe.
Mittsommernacht ist nichts im Vergleich zu dieser Quälerei – für mich ist dies der längste Tag des Jahres.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
7
Am Sonntag wache ich erst mittags auf, vollkommen groggy und durstig. Nachdem ich mich ausgiebig gestreckt habe, quäle ich mich aus dem Bett. Zufällig fällt mein Blick aufs Handy und ich stelle fest, dass Audrey mir eine SMS geschickt hat.
Hast du Lust vorbeizukommen?
Ich ziehe einen BH unter mein Schlaf-T-Shirt, gehe auf die Toilette und dann nach unten, um nach Mason zu suchen. Er ist nicht in der Küche, also mache ich mich auf den Weg in den Keller. Auf halbem Weg bleibe ich allerdings unwillkürlich stehen, als ich Masons und Cassies Stimmen höre.
»... aus heiterem Himmel«, sagt er gerade.
»Aber warum hat er Sydney kontaktiert?«, fragt Cassie. »Sie ist nicht einmal mehr aktiv.«
Bei der
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