Die fünf Leben der Daisy West
unterhalten, es zu tun – «
»Audrey!«, rufe ich lachend. »Jetzt hör endlich auf!«
»Okay, okay, aber nur um es einmal festzuhalten, ich glaube nicht, dass du die Wahrheit sagst.«
»Nur um es einmal festzuhalten, ich glaube, du spinnst.«
»Damit hast du wahrscheinlich recht«, sagt Audrey, wirft ihre glänzenden Haare über die Schultern und strahlt mich an. Ihre Zähne sind strahlend weiß und ihre dunklen Augen blitzen. Ihr Teint kommt durch ihr lavendelfarbenes T-Shirt wunderbar zur Geltung. In diesem Moment ist sie so perfekt, wie sie perfekter nicht sein könnte.
Bei dem Gedanken, dass ihr womöglich nicht mehr viel Zeit bleibt, wird mir übel.
Als Matt und Audrey mich nach der Schule zu Hause absetzen, hole ich mir aus der Küche eine Kleinigkeit zu essen und mache mich dann auf den Weg in den Keller, um mich zurückzumelden. Ich habe seit Tagen nicht mehr richtig mit Mason gesprochen. Er und Cassie sind ja erst gestern Abend aus Kansas City zurückgekehrt und heute Morgen bin ich vollkommen überstürzt losgerast. Dochals ich die Kellertür öffne, sehe ich, dass unten das Licht aus ist. Niemand zu Hause. Mit Apfel und Müsliriegel in der Hand mache ich kehrt und haste hinauf ins Büro. Das ist meine Chance, mir Fall 22 genauer anzuschauen.
Obwohl Mason damit einverstanden ist, dass ich Zugang zu den Revive-Ordnern habe und Cassie es toleriert, weil ihr nichts anderes übrig bleibt, bin ich wachsam. Ich habe das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, als ich mich erneut einlogge und mir die Liste der kürzlich aktualisierten Dateien ansehe.
Ich prüfe, welches Dokument als Letztes geöffnet worden ist, doch es stammt aus Gavins Ordner und nicht aus dem von Fall 22. Also gehe ich einen Schritt zurück und versuche es erneut.
Noch bevor mein Hirn verarbeitet hat, was geschehen sein muss, wird mir mulmig.
Abermals aktualisiere ich die Liste.
Dann wiederhole ich den Vorgang ein weiteres Mal.
Nochmals gehe ich einen Schritt zurück und versuche es wieder.
Wie ein Hacker auf einer Mission versuche ich es auf unterschiedlichen Wegen, bis ich unten eine Tür ins Schloss fallen höre und mich schnell abmelde. Verstört eile ich in mein Zimmer zurück.
Ich weiß, was ich gestern gesehen habe.
Ich weiß, warum ich heute so beunruhigt war.
Doch trotz intensiver Suche ist der Ordner im Moment unauffindbar.
Fall 22 ist verschwunden.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
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Die nächsten zwei Wochen vergehen ohne jegliche Antwort oder auch nur einen Hinweis. Es ist mir gelungen, die Sorge um Fall 22 in die hinterste Ecke meines Gehirns zu verbannen, wenn auch mit beträchlichem Kraftaufwand. Nicht dass ich nicht vor Neugier brennen würde. Das Problem ist nur, dass ich ab jetzt Mason fragen müsste, um mehr herauszufinden. Und Mason ist nicht dumm. Wenn ich ihm von Fall 22 erzähle, will er Einzelheiten wissen .
Was für Dokumente waren in dem Ordner?
Wie hast du ihn gefunden?
Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?
Das »wann« belastet mich am meisten. Ich werde gestehen müssen, dass es ausgerechnet an dem Abend war, als er aus Kansas City zurückkam und Matt im Haus war. Und dann wird Mason, der nicht umsonst der schlauste Mensch ist, den ich kenne, sofort ahnen, dass ich Matt von Revive erzählt habe. Um diesen Konflikt zu vermeiden, beschließe ich, mich in mein neues Leben zu stürzen und dem Programm keine Beachtung zu schenken, bis ich einen Weg finde, Fall 22 ohne Masons Hilfe nachzugehen. Denn inzwischen fühle ich mich fast so, als wäre ich in Omaha geboren und aufgewachsen und hätte die McKeans von Geburt an gekannt.
Matt, Audrey und ich fahren morgens zusammen zur Schule und verbringen jeden Nachmittag zusammen. Audrey und ich können unsere Sätze gegenseitig beenden und manchmal schlägt sie mir sogar Themen für Alles Autopsiert vor wie: »Was ist schlimmer? Sonntagabend oder Montagmorgen?« oder »Sportlehrer: Freund oder Feind?«
Außerdem scheint es Audrey gut zu gehen, weshalb ich wiederum kein schlechtes Gewissen habe, dass ich mich wunderbar fühle. Obwohl Matt und ich nicht über Revive sprechen, merke ich daran, wie vehement er Bienen verscheucht, wenn wir draußen Mittag essen, dass er es nie so ganz vergisst. In den Pausen halten wir Händchen oder simsen und wir chatten jeden Abend bis tief in die Nacht. Für mich wird immer deutlicher, dass unsere Beziehung weit mehr ist, als nur verknallt zu sein.
Kurz und gut: Es könnte
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