Die fünf Leben der Daisy West
wie beobachten wir?«
»Auf mehrfache Weise«, antwortet Mason, während er seinen Computer auspackt. »James und David fliegen in diesem Moment nach Omaha, um das Haus nach Wanzen zu durchsuchen und genauer zu überprüfen, ob etwas fehlt. Wie du weißt, hatte ich nicht viel Zeit.«
»Dabei fällt mir ein: Wo ist eigentlich mein Schulrucksack?«, frage ich. »Du hast ihn doch mitgenommen, oder?«
In dem Rucksack befinden sich, versteckt im Mathebuch, Notizen, die ich mir zu Fall 22 gemacht habe.
»Tut mir leid, ich habe nur Kleidung und den Computer für dich mitgenommen. Die Schulsachen nicht.«
Ich schüttele den Kopf. »Kannst du dafür sorgen, dass ihn bis morgen jemand schickt?«
»Soll dir vielleicht ein staatlicher Agent den Rucksack per Kurier senden?«, fragt Mason mit einem schiefen Lachen.
»Ja«, antworte ich tonlos.
Mason sieht mich erstaunt an. »Na gut«, erwidert er schließlich. »Vielleicht klappt’s ja. Mal sehen, ob ihn jemand rausholen kann.«
Statt eine bissige Bemerkung zu machen, wechsele ich das Thema. »Wie lange bleiben wir hier?«, erkundige ich mich.
»Eine Woche«, antwortet Mason. »Länger wahrscheinlich nicht.«
»Wahrscheinlich?«, hake ich nach. »Was ist mit Schule? Wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich, bei all dem, was ich seit Audrey verpasst habe, das Jahr wiederholen müssen.« Der Gedanke an Audrey versetzt mir einen Stich.
Mason antwortet nicht sofort und schaut mich stattdessen auf eine Art und Weise an, die mich nervös macht. Mit dem Oberkörper hat er sich mir zugewandt, sodass er mir direkt in die Augen sehen kann, sein Gesichtsausdruck ist finster, aber verständnisvoll – wie der von jemandem, der einem hoffnungsvollen Kind die Wahrheit über den Weihnachtsmann eröffnet. Fast erwarte ich, dass er sich gleich auf meine Höhe herunterbeugt.
»Darüber wollte ich mit dir sprechen«, sagt er leise, bevor er mir den nächsten der vielen Schocks am heutigen Tag versetzt. »Wir würden dich ganz gern für eine Weile zu Hause unterrichten.«
Aufgebracht öffne ich sofort den Mund, um dagegen zu protestieren, doch dann klingelt schon wieder Masons Smartphone. Er hebt den linken Zeigefinger – Nur einen Moment! – während er mit der rechten Hand das Gespräch annimmt.
Ich fahre mir nervös mit den Händen durch die Haare. Kurz halte ich dabei inne, weil ich ernsthaft in Erwägung ziehe, mir einige herauszureißen. Ich blicke zu Cassie hinüber, die noch immer stur etwas in ihren Computer tippt. Mason hingegen scheint das Telefonat einen Energieschub gegeben zu haben. Er spricht laut, hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg und unterstreicht seine Worte mit Gesten, die die Person am anderen Ende der Leitung nicht einmal sehen kann.
Und ich?
Ich stehe mitten in einem fremden Wohnzimmer und wünschte, ich könnte die Zeit ein paar Monate zurückdrehen und mein Leben in Omaha noch einmal ganz von vorn beginnen.
Aber hätte ich irgendetwas ändern können?
Als er merkt, dass ich ihn ansehe, legt Mason die Hand über den Hörer und flüstert mir zu: »Fang an, dich hier einzurichten. Es ist zwar nur vorübergehend, aber du kannst dir dein Zimmer trotzdem so gestalten, wie es dir gefällt.«
Dann zwinkert er mir zu, als sei das alles ein Witz, was mich noch mehr auf die Palme bringt. Niemand will sich anhören, was ich von dieser Idee halte, mich zu Hause zu unterrichten, von dem »vorübergehenden Unterschlupf« und all dem anderen Mist. Ich stürme aus dem Raum und weiter durch den Flur. Ich bin so angefressen, dass nicht einmal Türen knallen und Schreien hilft. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich Mason am liebsten den Stinkefinger zeigen.
Am nächsten Morgen gehen wir einkaufen. Ich bin noch immer wütend und spreche mit Mason nur, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster des Wagens, um einen Eindruck von unserem vorübergehenden Aufenthaltsort zu bekommen.
Wie sich herausstellt, gibt es in Hayes, Texas, nichts Schönes, Ansprechendes oder auch nur entfernt Interessantes. Selbst im November ist es hier noch heiß. Und klein ist der Ort auch. Man hat das Gefühl, als hätte man Schmutz auf sein Müsli gestreut und die Pampe dann zum Nachtisch noch einmal gegessen. Frauen, die mit Lockenwicklern in der Öffentlichkeit unterwegs sind, sehen uns im Eisenwarengeschäft komisch an. Sie ereifern sich über Cassie, weil sie schön ist, während sie in ihren Morgenmänteln auf der Straße sind. Der Mann im
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