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Die fünfhundert Millionen der Begum

Die fünfhundert Millionen der Begum

Titel: Die fünfhundert Millionen der Begum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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nicht und konnte es sich wirklich auch kaum vorstellen, doch er hatte sich einmal geschworen, zu entfliehen und durfte nun auch nicht das Geringste unbeachtet lassen, was seine Entweichung begünstigen konnte.
    Die Zeit drängte – was sollte er beginnen?
    Beim leisesten Zeichen eines Widerstandes oder Fluchtversuches war er sicher, zwei Kugeln durch den Kopf zu bekommen. Selbst angenommen, daß die Schüsse ihn nicht trafen, so befand er sich doch inmitten einer dreifachen Umschließung, welche mit dreifachen Reihen von Wachen besetzt war.
    Seiner Gewohnheit als alter Zögling der Centralschule entsprechend, hatte Marcel sich seine Aufgabe als klarer mathematischer Kopf zurechtgelegt.
    »Angenommen, ein Mensch sei von zwei gänzlich rücksichtslosen Kerlen bewacht, die ihn auch körperlich an Stärke weit übertreffen und überdies bis an die Zähne bewaffnet sind, so kann es sich zuerst nur darum handeln, der Aufmerksamkeit dieser Argusaugen zu entwischen. Ist das erreicht, so gilt es, aus einem befestigten Platz zu entkommen, dessen Zugänge alle strengstens überwacht sind….«
    Hundertmal legte Marcel sich diese Fragen vor und hundertmal scheiterte er mit dem Versuche, sie zu lösen.
    Es wäre schwer zu entscheiden, ob nur die Gefahr seiner Lage seinen Erfindungsgeist auf’s höchste anspannte oder ob der bloße Zufall ihm endlich zu einem Rettungsanker verhalf.
    Jedenfalls wurde Marcel’s Aufmerksamkeit schon am nächsten Tage, als er im Park umherging, durch einen sonderbaren Strauch, der auf einem Beete grünte, unwillkürlich erregt.
    Es war eine düstere, krautartige Pflanze mit wechselständigen, eiförmigen, zugespitzten Blättern, großen glockenförmigen, braunvioletten Blüthen und verästeltem Achsenstengel.
    Marcel, der sich mit Botanik nur so nebenher beschäftigt hatte, glaubte in derselben doch die Kennzeichen der Familie der Solaneen wiederzufinden. Ganz ohne Absicht pflückte er ein Blättchen davon ab, das er während des Gehens zerkaute.
    Er hatte sich nicht geirrt. Eine gewisse Schwere der Glieder, verbunden mit dem Gefühle von Uebelkeit, bewies ihm, daß er hier ein natürliches Laboratorium für Belladonna, das heißt eines der wirksamsten Narcotica aufgefunden habe.
    Immer dahinschlendernd, gelangte er nach einem kleinen See, der sich nach dem Süden des Parkes hin erstreckte, um an seinem Ende einen Wasserfall zu speisen, der dem im Boulogner Walde ziemlich glücklich nachgebildet war.
    »Wo fließt aber das Wasser dieses Falles ab?« fragte sich Marcel.
    Dasselbe ergoß sich zunächst in das Bett eines Flüßchens, das nach vielen Windungen an der Grenze des Parkes verschwand.
    Dort mußte also ein Ausfluß sein und allem Anscheine nach entleerte sich der Fluß durch einen unterirdischen Kanal, der außerhalb Stahlstadts die Umgebung bewässerte.
    Marcel ahnte, daß hier die Pforte zur Flucht zu suchen sei. War es auch kein Thorweg, so blieb es doch immer eine Pforte.
    »Doch, wenn der Kanal durch Eisengitter verschlossen wäre? warf ihm da die Stimme der Klugheit ein.
    – Wer nicht wagt, gewinnt nicht! Die Feilen wurden nicht erfunden, um Korkpfropfen abzunagen, und Feilen giebt es hier von der besten Art!« erwiderte eine ironische Stimme in seinem Innern, die Stimme, welche die raschen Entschlüsse zur Welt bringt.
    Binnen zwei Minuten war Marcel’s Plan gefaßt. Ein Gedanke – wenn man es einen solchen nennen darf – ein Gedanke war ihm gekommen, der sich vielleicht als unausführbar erwies, aber dem er doch zu folgen versuchen wollte, wenn ihn der Tod nicht vorher ereilte.
    Er kehrte also wie von ungefähr nach jenem Gebüsch zurück und pflückte zwei oder drei Blätter so davon ab, daß seine Wächter es bemerken mußten.
    Dann begab er sich nach seinem Zimmer, trocknete die Blätter am Feuer, zerrieb sie mit den Händen und mischte sie unter seinen Tabak.
    Auch die sechs folgenden Tage erwachte Marcel, eigentlich zu seinem eigenen Erstaunen des Morgens immer wieder. Sollte Herr Schultze, den er jetzt nicht mehr sah und dem er bei seinen Spaziergängen niemals begegnete, seine Absicht aufgegeben haben? Nein, sicher nicht, so wenig wie sein Vorhaben, die Stadt des Doctor Sarrasin zu zerstören.
    Marcel benutzte also das ihm noch geschenkte Leben und wiederholte sein Verfahren Tag für Tag. Wohlverstanden, fiel es ihm nicht ein, von der Belladonna selbst zu rauchen, und er theilte seinen Tabak deshalb in zwei Packete, das eine für seinen gewöhnlichen Gebrauch, das andere

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