Die fünfte Kirche
Gesicht.
«Langsam verstehe ich, warum die Kirche dem Übernatürlichen so konservativ gegenübersteht. Mach die Tür zu und verriegele sie. Leg eine dicke Matte auf den Fußboden vor die Ritze. Lass nicht den kleinsten Schlitz frei, damit kein unnatürliches Licht durch kann, denn ein winziger Lichtspalt ist genauso schlimm wie … wie der allerhellste Lichtstrahl, der dich erblinden lassen kann.»
«Wie bei Paulus auf der Straße nach Damaskus?», fragte Sophie.
«Nicht ganz. Paulus war …»
«Sie sind vollkommen erschöpft.»
«Ich meine, ich
bin
sicher … ich bin nur nicht ganz sicher, in welcher Hinsicht ich mir sicher bin. Die Kirche ist nur deshalb relativ intakt, weil sie langweilig und konservativ ist. Steine, Mörtel und Loblieder. Der Rest fällt unter spirituelle Grenzfragen. Das ist ein schmutziger Job, und sie waren nie wirklich davon überzeugt, dass ihn überhaupt jemand machen muss.»
«Ich hab
Livenight
gesehen», sagte Sophie. «Ich weiß wirklich nicht, wie Sie anders hätten reagieren sollen. Ohne wie eine … Spinnerin zu wirken.»
«Oder bigott. Was vermutlich beides besser ist als ein Feigling.» Merrily trank ihren Tee, die Tasse mit beiden Händen umfassend. «Du verbringst eine endlose Stunde damit, dich im Fernsehen lächerlich zu machen, und denkst danach, dass die ganze Religion ein Witz ist. Du bist unglücklich und schämst dich und bist verbittert, alles gleichzeitig. Du steigst ins Auto, fährst vielleicht nicht ganz so vorsichtig, wie du solltest, angesichts all der Nebelwarnungenund der Tatsache, dass dein Mann zufällig genau auf dieser Strecke gestorben ist. Du fährst in eine Nebelbank. Du nimmst dunkel zwei rote Flecken wahr und denkst, dass sie Hunderte von Metern weit entfernt sind, und dann entpuppen sie sich als die Rücklichter dieses kaputten Lastwagens, der dir direkt im Weg steht. Du reißt panisch das Lenkrad herum. Du siehst einen Menschen, der einen andern Menschen über die Straße zieht, direkt vor dir. Auf einmal starrt die eine Gestalt direkt in deine Scheinwerfer, und du siehst … du siehst in das Gesicht deiner Tochter, die, wie du ganz genau weißt, fast fünfzig Meilen weit weg im Bett liegt. Das Gesicht deiner Tochter … weiß, ausdruckslos. Wie das Gesicht einer Leiche.»
Sophie schauderte. «Das muss … ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das gewesen sein muss.»
«Wie … Nemesis», sagte Merrily. «Wissen Sie, worüber ich unmittelbar vorher nachgedacht hatte? Ich habe über diese Frau nachgedacht, die glaubt, den Geist ihrer Schwester zu sehen. Ich hatte gerade beschlossen, dass sie absolut kein psychisches Problem hat – ganz und gar nicht!»
«Was ist das denn für eine Geschichte?»
«Ich habe ihr gesagt, dass ich mit ihr zur Beerdigung ihrer Schwester gehe. Heute Nachmittag. In zwei Stunden. Sogar in weniger als zwei Stunden.»
«Oh, Merrily, niemand kann von Ihnen erwarten –»
«Ich muss hin.»
«Sie haben
überhaupt
nicht geschlafen.»
«Doch, ungefähr eine Stunde, auf dem Sofa. Ich habe die Katze gefüttert, ein Brot gegessen, zweimal im Krankenhaus von Worcester angerufen, um sicher zu sein, dass Jane nicht … dass es ihr nicht schlechter geht. Nein, ich muss unbedingt zu dieser Beerdigung, denn …»
Denn wenn ich nicht hingehe, und es passiert etwas Schreckliches …
«Ich muss das jetzt zu Ende bringen.»
«Dann legen Sie sich vorher eine Weile hin. Ich suche Ihnen ein Zimmer im Bischofspalast. Sehen Sie sich an – Sie zittern ja. Haben Sie gesagt, dieser Auffahrunfall war an derselben Stelle, an der Ihr Mann gestorben ist?»
«Es war auf der anderen Spur, Richtung Norden. Er war … ich glaube, ich hab an ihn gedacht, als …»
Als sie ins Fernsehstudio gegangen war? Hatte Sean sie dorthin verfolgt? War er schon in ihrem Kopf gewesen, als sie das Gebäude betreten hatte? Nachdem sie genau dort entlanggefahren war, unter genau dieser Brücke hindurch, gegen die sein Auto gerast war, und sich bei dem Aufprall zu einer lodernden Feuerkugel zusammengeschoben hatte, in der er und Karen zerrissen wurden und verbrannten.
Davon konnte sie Sophie nichts erzählen. Sie konnte ihr auch nichts von dem eloquenten Heiden Ned Bain erzählen, der mit Seans trägem, wissendem Blick dagesessen und sogar seine Beine à la Sean übereinandergeschlagen hatte.
Bleib einfach beim Wichtigsten.
«Und, du glaubst … du glaubst, dass das nicht wirklich passieren kann, dass es eine
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